Syrien: Der Hunger in der Bevölkerung wächst

Die Lebensmittelpreise steigen, die Nahrungsunsicherheit auch. An den US-Sanktionen ändert sich nichts. Kommentar

Fast die Hälfte der syrischen Haushalte muss mit weniger Mahlzeiten auskommen. 46 Prozent der untersuchten Haushalte in Syrien ("at a national level") meldeten im Juli 2021 einen "schlechten oder grenzwertigen Nahrungsmittelkonsum", stellt der aktuelle Lagebericht des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen fest (World Food Programme, WFP).

Im Vergleich zur Situation im Juli 2020 sei das ein Anstieg von 15 Prozent und um drei Prozent gegenüber dem Vormonat Juni.

Besonders schlimm steht es im Gouvernement Hama, wo fast drei von fünf Haushalten mit unzureichender Ernährung auskommen müssen. Dort beträgt der Anstieg derjenigen, die auf Mahlzeiten verzichten müssen, 26 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch das Gouvernement Deir ez-Zor ist dem WFP wegen "inadequate food consumption" (unzureichender Ernährung) aufgefallen. Wie zu erwarten, haben auch knapp mehr als die Hälfte die Binnenflüchtlinge (53 Prozent) mit einer unzureichenden Ernährung zu schaffen. Ähnliches gilt für die Rückkehrer.

Der Bericht stiftet etwas Verwirrung, wenn man sich die Begriffe genauer ansieht, die den Hunger beschreiben. So ist einmal die Rede von "poor or borderline food consumption", was eingangs etwas ungelenk amtlich mit "schlechten oder grenzwertigen Nahrungsmittelkonsum" übersetzt wurde, zum anderen taucht der Begriff "inadequate food consumption" auf, der mit "unzureichendem Nahrungsmittelkonsum" wiedergegeben wurde. Das ist eine eigene Diskussion für die Fachwelt, wie auch die Methodologie, die zu diesen Ergebnissen führt.

Es finden sich im Bericht allerdings auch Beobachtungen, die die miserable Lage eines großen Teils der syrischen Bevölkerung klar machen. In 56 Prozent der Haushalte in Syrien, zu deren Lebensweise der WFP Daten hat, gibt es weniger als zweimal die Woche Essen mit tierischem Protein. Bei Haushalten, deren Situation mit "unzureichendem Nahrungsmittelkonsum" bezeichnet wird, kann eine ganze Woche verstreichen, bis es wieder Fleisch oder Fisch oder andere Produkte mit tierischem Eiweiß gibt.

Auf Twitter fasst das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, OCHA, die Lage knapp und deutlich zusammen:

Familien berichten, dass sie gezwungen sind, Mahlzeiten ausfallen zu lassen und Schulden zu machen. Kinder brechen die Schule ab, um zu arbeiten, damit sie essen können. Haushalte, die von Frauen geführt werden, sind schlechter dran und brauchen dringend mehr Unterstützung.

OCHA

Knapp und deutlich fällt dazu auch der Kommentar des Syrien-Kenners Ehsani22 aus: "Die Sanktionen wirken". Wer die Beiträge von Ehsani22 kennt, weiß, dass dies nicht zynisch gemeint ist. Die Härte darin richtet sich gegen eine Position, die in der Diskussion über die US-Syrien-Sanktionen von Hardlinern und Unterstützern einer stärkeren Interventionspolitik des Westens in Syrien vertreten wird.

Dieses Lager, exemplarisch zu nennen, wären Vertreter des US-Think-Tanks Atlantic Council, in Fachkreisen (die Einfluss auf Regierungen haben) bekannte Syrien-Experten wie Charles Lister, aber auch moderatere Kommentatoren, dazu könnte man etwa den schwedischen Journalisten Aron Lund zählen. In Deutschland zählt Julian Röpcke von der Bild-Zeitung zu den Hardlinern.

Diese Seite behauptet, dass Sanktionen gegen das "Assad-Regime" zielen und damit gut und richtig sein sollen. Wenn die Bevölkerung darunter leide, so habe das die autoritäre Regierung in Damaskus zu verantworten; dies sei nicht die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, die sich hinter der Nato-Fahne und den hohen Werten versammelt.

Geht es nach Meinungsartikeln, die man in den großen und größeren Medien, SZ, Spiegel, FAZ, u.a., hierzulande findet, so hat man den Eindruck, dass es auch hierzulande in der Berichterstattung einen Konsens darüber gibt, wonach sich die Sanktionen gegen die Regierung richten und zwar "Kollateralschäden anrichten", dass sie aber nichtsdestotrotz notwendig sind.

Aber wie steht es um die angestrebte Wirkung? Baschar al-Assad wurde kürzlich erst als Präsident wiedergewählt. Es sieht nicht danach aus, also ob die Sanktionen irgendeinen einen Einfluss auf die Machtverhältnisse in Syrien haben. Sehr wohl aber auf die Lage der Bevölkerung. Das steckt in der Aussage von Ehsani22, einem US-Investmentspezialisten syrischer Herkunft, der seit Anfang Mitte der 2000er-Jahre durch kritische Analysen im Blog Syria Comment von Joshua Landis aufgefallen ist.

Seit langer Zeit gibt es Meldungen von erneut steigenden Lebensmittel- und Treibstoffpreisen, wie auch im aktuellen OCHA-Lagebericht, und einer verarmenden Bevölkerung. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, es kommen härtere Tage. Ob die politische Ausrichtung der westlichen Länder neu justiert wird? Der Zeitpunkt dafür wäre da.

Afghanistan könnte ja eine Lernkurve vorgeben: Dass die Nato-Länder zu wenig auf das geachtet haben, was der Bevölkerung wichtig ist. Das betrifft das Auskommen. Essen, Arbeit und ein sicheres Dach über dem Kopf. "Hearts and Minds" sind nicht mit militärischen Mitteln zu überzeugen und auch nicht mit Methoden eines Wirtschaftskrieges, der auf Kosten der Bevölkerung darauf abzielt, dass der Regierung der Wiederaufbau des Landes so schwer wie möglich gemacht wird. Die US-Sanktionen treffen jeden, der der Regierung in Damaskus beim Wiederaufbau hilft.

Biden setzt die Politik der Trump-Regierung fort (US-Syrien-Sanktionen setzen auf weitere Verarmung der Bevölkerung). Und die Europäer schließen sich dem wie immer an, ohne eigene Konzepte.