Impfempfehlung für gesunde Kinder und Jugendliche bleibt fragwürdig

Die Ständige Impfkommission hat eine quantitative Nutzen-Risiko-Abwägung vorgelegt. Welche Erkenntnisse wir daraus gewinnen können und welche Fragen bleiben. Eine Analyse

Ein viel kommentierter erster Telepolis-Beitrag zur Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) beim Robert-Koch-Institut (Brauchen gesunde Kinder und Jugendliche wirklich eine Corona-Impfung?) hat sich mit dem jüngsten Beschluss dieses Gremiums vom 16. August kritisch auseinandergesetzt. Dieser empfiehlt jetzt auch für gesunde Kinder und Jugendliche von zwölf bis 17 Jahren eine Corona-Impfung.

Viele Wochen hatten die Experten der Stiko dem Druck aus der Politik standgehalten, auch diese Altersgruppe in die Impfkampagne einzubeziehen, und hatten an ihrem Beschluss vom 10. Juni festgehalten, keine generelle Impfempfehlung für sie abzugeben. Stattdessen hatten sie sich in diesem Beschluss für eine Impfung dieser Altersgruppe nur bei Vorliegen von bestimmten Risikofaktoren und Vorerkrankungen ausgesprochen.1

Am 19. August wurde dann die ausführliche wissenschaftliche Begründung der Stiko für ihre überraschende 180-Grad-Wende publiziert2, die wir uns im Folgenden näher ansehen wollen, wobei sich die im Text angegebenen Seitenzahlen auf diese Veröffentlichung beziehen.

Begründung der Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche

Wie wird dieser Meinungsumschwung wissenschaftlich begründet? In der Inhaltsangabe (S. 3) und unter "Fazit und Impfempfehlung" (S. 40 ff.) heißt es in diesem umfangreichen Papier der Stiko3:

Seit der Empfehlung der Covid-19-Impfung für Kinder und Jugendliche mit bestimmten Vorerkrankungen und der Möglichkeit einer Impfung auf Wunsch nach ausführlicher Aufklärung in der letzten Aktualisierung der Stiko-Empfehlung vom 10. Juni haben sich neue Erkenntnisse ergeben.

Auf der Grundlage neuer Überwachungsdaten, insbesondere aus dem US-amerikanischen Impfprogramm mit nahezu zehn Millionen geimpften Kindern und Jugendlichen, können mögliche Risiken der Impfung für diese Altersgruppe jetzt zuverlässiger quantifiziert und beurteilt werden.

Auch für alle zwölf- bis 17-jährigen Kinder und Jugendliche empfiehlt die Stiko jetzt die Impfung gegen Covid-19 mit einem der beiden in der EU für diese Altersgruppe zugelassenen mRNA-Impfstoffe (Comirnaty von Biontech/Pfizer und Spikevax von Moderna). Verabreicht werden sollen jeweils zwei Dosen Comirnaty oder Spikevax im Abstand von drei bis sechs bzw. vier bis sechs Wochen.

Die möglichen Risiken der Impfung von zwölf- bis 17-Jährigen betreffen Herzmuskel- bzw. Herzbeutelentzündungen (Myo- bzw. Perikarditiden). Diese Erkrankungen sind sehr selten bei Jungen, noch seltener bei Mädchen und haben meist einen unkomplizierten, zeitlich begrenzten Verlauf.

Neuere Untersuchungen aus dem Ausland weisen darauf hin, dass eine Beteiligung des Herzens auch bei Covid-19-Erkrankungen auftreten kann.

Vor dem Hintergrund der prognostizierten gesteigerten Krankheitslast von Jugendlichen, die laut einer Modellierung in der angelaufenen vierten Welle der Pandemie in diesem Herbst/Winter zu erwarten ist, überwiegen nach gegenwärtigem Wissensstand die Vorteile der Impfung deutlich die möglichen, sehr seltenen Impfnebenwirkungen (siehe unten).

Nach Prüfung der aktuellen Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe Comirnaty und Spikevax bei Kindern und Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren sowie Auswertungen der Daten zur Epidemiologie und Krankheitslast von Covid-19 in dieser Altersgruppe, inklusive psychosozialer Folgen der Pandemie, hat die Stiko im Rahmen einer Nutzen-Risiko-Abwägung entschieden, ihre bisherige Einschätzung zu aktualisieren und eine allgemeine Covid-19-Impfempfehlung für zwölf- bis 17-Jährige auszusprechen.

Diese zielt zusammenfassend in erster Linie auf deren direkten Schutz vor Covid-19 und assoziierten Komplikationen ab.

Auch wenn die Impfung von Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren alleine nach den Ergebnissen von Modellierungen keinen ausgeprägten Effekt auf den Gesamtverlauf der Pandemie in Deutschland hat, trägt sie relevant zur Infektions- und Krankheitsprävalenz in der Altersgruppe der Jugendlichen bei.

Zudem trägt sie weiter gemeinsam mit einer notwendigen weiteren Steigerung der Impfquote der 18- bis 59-Jährigen zur Verminderung der Übertragung von Sars-CoV-2 in der Gesamtbevölkerung bei. Hiermit kann ein zusätzlicher indirekter Impfschutz auch für Kinder unter 12 Jahren erreicht werden (siehe unten).

Aufgrund des beschränkten Beobachtungszeitraums für den Verlauf der aufgetretenen Myokarditiden können mögliche mittel- und langfristige Folgen aktuell nicht bewertet werden.

Deshalb ist eine ärztliche Aufklärung zu Risiken und Nutzen der Impfung notwendig (siehe unten). Die Aufklärung muss auch für die Kinder und Jugendlichen verständlich sein, um diesen eine informierte Entscheidung zu ermöglichen.

Quantitative Nutzen-Risiko-Abwägung der Stiko

Die jetzt vorliegenden Daten, die in dem Papier ausführlich dargestellt sind, würden eine quantitative Risiko-Risiko-Abschätzung erlauben. Wie diese ausfällt, wird in der Tabelle 15 (aus Wissenschaftliche Begründung der Stiko für die Empfehlung zur Impfung gegen Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen von 12 - 17 Jahren) gezeigt.

Tab. 15: Risiko-Nutzen-Abwägung der Impfempfehlung für 12- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche bei einer angenommenen Impfquote für die abgeschlossene Grundimmunisierung von 20 Prozent bzw. 50 Prozent in dieser Altersgruppe und von 75 Prozent bei den 18- bis 65-Jährigen. IST: Intensivstation. PIMS: Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrom (aus S. 41 in "Wissenschaftliche Begründung der Stiko für die Empfehlung zur Impfung gegen Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen von 12 - 17 Jahren").

Zum besseren Verständnis der Tabelle 15 vorab einige Erläuterungen.

Telepolis hatte schon darüber berichtet, dass es sehr selten bei Kindern im Anschluss an eine Infektion mit Sars-CoV-2 zum Auftreten eines Entzündungssyndroms kommen kann, das verschiedene Organe betrifft und PIMS ("Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome") genannt wird.4

Erste Auswertungen zu dem neuen Krankheitsbild, das möglicherweise durch eine gestörte Immunregulation ausgelöst wird, zeigen, dass die Kinder im Rahmen der Erkrankung oft intensivpflichtig werden, sich dann aber meist gut erholen. Ein tödlicher Verlauf wurde in Deutschland bisher nicht berichtet.

Bis zum 18. Juli wurden 392 Kinder dem Paul-Ehrlich Institut (PEI) gemeldet, bei denen in Deutschland in 162 Zentren ein PIMS diagnostiziert wurde (S. 24). Für die Altersgruppe der zwölf- bis 17-Jährigen wurden 86 PIMS-Fälle erfasst. Davon waren 24 weiblich.

Bei 19 der 86 Fälle waren respiratorische Vorerkrankungen wie Asthma, Heuschnupfen und Belastungsdyspnoe, hämatologische Grunderkrankungen oder neurologische/neuromuskuläre, kardiovaskuläre oder Autoimmunerkrankungen bekannt.

Bei einer Nutzen-Risiko-Abwägung der Corona-Impfung bei Kindern und Jugendlichen sind gegenüber ernsten Covid-19-bedingten Krankheitsfällen wie PIMS, die durch die Impfung verhindert werden sollen, auf der anderen Seite die Fälle von Myokarditis bzw. Perikarditis zu berücksichtigen, die wahrscheinlich durch die Impfung mit dem mRNA-Impfstoff verursacht werden können (siehe auch "Herzmuskelentzündungen bei jungen Männern: sehr seltene Nebenwirkung nach mRNA-Impfstoffen").

In Deutschland wurden an das PEI mit Stand 31. Juli 24 Fälle von Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen bei Betroffenen im Alter von 14 bis 17 Jahren innerhalb von 14 Tagen nach Comirnaty-Impfung übermittelt. Es handelte sich um 22 Jungen und 2 Mädchen (S. 35).

Die gemeldeten Myokarditiden ereigneten sich überwiegend nach der zweiten Impfstoffdosis. Wieder gesund bzw. auf dem Weg der Besserung waren sieben, noch nicht wiederhergestellt zum Zeitpunkt der Meldung waren elf Fälle. In sechs Fällen waren die Informationen unvollständig. Todesfälle sind nicht aufgetreten.

Die Melderate einer (Peri-)Myokarditis betrug bis zum 31. Juli bei einer vom Robert-Koch Institut (RKI) angegeben Impfquote von 20,5 Prozent Erstimpfung und 9,9 Prozent vollständig geimpfter Kinder und Jugendlicher 1,77 pro 100.000 Dosen Comirnaty.

Die Melderate für vollständig mit Comirnaty geimpfte Jungen betrug 1 (Per-) Myokarditis pro 17.443. Es wird aber angemerkt, dass eine Untererfassung wahrscheinlich ist, da es sich um ein passives Meldesystem handelt.

Jetzt soll kurz die Tabelle 15 erläutert werden, wobei in der Kopfzeile u. a. die Anzahl der Covid-19-Infektionen, der Hospitalisierungen, der Intensivbehandlungen, der PIMS-Fälle und der erwarteten Myokarditiden nach Impfung aufgeführt sind.

In der ersten horizontalen Spalte zeigt die Tabelle, dass in den ersten 16 Monaten der Pandemie, in der bis zum 10. Juni keine Impfungen bei zwölf- bis 17-Jährigen und ab diesem Zeitpunkt nur bei Kindern und Jugendlichen mit Vorerkrankungen durchgeführt wurden, in dieser Altersgruppe 206.161 Covid-19-Infektionen zu verzeichnen waren.

Davon mussten 2.110 Fälle hospitalisiert werden. In 86 Fällen ist es zum Auftreten eines PIMS gekommen (siehe oben), wobei knapp die Hälfte der Fälle auf der Intensivstation behandelt wurde.

In der zweiten und dritten horizontalen Spalte der Tabelle 15 sind die Erwartungen für die bevorstehende vierte Welle im Herbst/Winter bei den zwölf- bis 17-Jährigen dargestellt, die sich aus Modellrechnungen mit zwei unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich der Impfquoten ergeben.

Bei einer Impfquote von 50 Prozent der gesunden Kinder und Jugendlichen ergeben sich als direkte Effekte rein rechnerisch eine Verminderung der Covid-Fälle, der Hospitalisierungen und der PIMS-Fälle von gut einem Drittel im Vergleich zu einer Impfquote 20 Prozent. Dem stehen rechnerisch 82 Fälle von erwarteten Myokarditiden durch die Impfung gegenüber.

Neben den genannten direkten Effekten einer Corona-Impfung der zwölf- bis 17-Jährigen ergeben sich für die Kinder im Alter von null bis elf Jahren, in der untersten horizontalen Spalte dargestellt, weiterhin positive indirekte Effekte einer Impfung insofern, als auch in dieser Altersgruppe weniger Covid-19-Infekte, weniger Hospitalisierungen und weniger Behandlungen auf der Intensivstation zu erwarten sind.

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