Diese Lehren können wir aus dem Scheitern in Afghanistan ziehen

Der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara hat aus Vietnam gelernt. Seine Erkenntnisse werden in Washington und Berlin jedoch ignoriert

Kritik auf allen Kanälen: es geht um die Flucht aus Afghanistan. Man kann es nicht anders nennen, was hier die Evakuierung der gefährdeten Mitarbeiter genannt wird.

Niederlagen werden selten geordnet abgewickelt. Was brutal im Oktober 2001 als "Operation Enduring Freedom", also "andauernde Freiheit" mit der Jagd auf Osama Bin Laden begann, sich zwanzig Jahre lang mit Krieg, Zerstörung und vielen menschlichen Opfern (um die 240.000 Tote, Millionen Verletzte) hinzog, endet nun in einem Chaos am Flughafen Kabul und einer späten Erkenntnis, dass wohl alles falsch und nichts gut war in Afghanistan.

Die Truppen und das Personal der US-Amerikaner, der Deutschen und der anderen Nationen, die an der Besatzung beteiligt waren, sind in Sicherheit. Das Schicksal der afghanischen Mitarbeiter wird uns noch lange verfolgen.

Doch, was nun? Gibt es Lehren aus diesem Debakel? Es sind die gleichen Fragen, die sich die USA nach der Niederlage in Vietnam und der Flucht aus Saigon 1975 stellen mussten.

Sie haben die Lehren offensichtlich nicht gezogen. Noch 1980 hatte der US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski seinem Präsidenten Jimmy Carter geraten, dass die US-Amerikaner nun die Gelegenheit hätten, "den Sowjets ihr Vietnam zu bescheren".

Gut vierzig Jahre später sollten sie sich eingestehen, dass sie sich selbst ein zweites Vietnam beschert haben. Und bei Bundesregierung und Bundestag sollten sich ebenfalls Zweifel über solcher Art Werte- und Waffenbrüderschaft mit den USA einstellen.

1995, zwanzig Jahre nach dem Rückzug der US-Armee aus Vietnam hat sich der damalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara die Frage nach den Lehren aus dem verheerenden Krieg und der blamablen Niederlage gestellt.

Aller Pflichten des Amtes und jeder Verantwortung für die eigenen Fehler enthoben, konnte er entspannt und nüchtern auf das dunkelste Kapitel der US-amerikanischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg blicken. In seinem Buch In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam (deutsch: Vietnam: Das Trauma einer Weltmacht, Hamburg 1996) kommt er zu einem vernichtenden Urteil des Krieges und seiner eigenen Rolle in ihm.

In seinem letzten Kapitel, "Die Lehren aus Vietnam" (S. 410 ff.), zählt er insgesamt elf Gründe auf, aus denen der Kampf gegen Nordvietnam und den Vietcong scheitern musste und gar nicht erst hätte begonnen werden dürfen.

So hätten die USA die politischen Kräfte des Landes ganz und gar falsch eingeschätzt und insbesondere ihren Wunsch nach Freiheit und Demokratie und ihren Willen, dafür zu kämpfen.

Grenzen des kulturellen, politischen und militärischen Interventionismus

Auch hätten sie vollkommen "unterschätzt, welche Kraft das Nationalbewusstsein einem Volk verleiht, für seine Überzeugungen und Werte zu kämpfen und zu sterben". Diese Fehleinschätzungen hätten "ihre völlige Unkenntnis bewiesen, was Geschichte, Kultur und Politik der Völker Indochinas sowie die Persönlichkeit und Haltung der führenden Politiker des Landes angeht".

Zudem hätten sie nicht erkannt, "dass den modernen, hochtechnologisch ausgerüsteten Streitkräften und den für sie entwickelten Strategien Grenzen gesetzt sind, wenn es zur Konfrontation mit einem unkonventionell kämpfenden und hochmotivierten Volk kommt".

Es sei ihnen deshalb auch "nicht gelungen, die Herzen und den Verstand der Menschen eines vollkommen anders gearteten Kulturkreises" zu gewinnen und in der Bevölkerung einen Rückhalt zu finden. "Nur in Übereinkunft mit multinationalen Streitkräften und bei umfassender Unterstützung (nicht nur pro forma) durch die internationale Staatengemeinschaft" (...) hätten die "militärischen Aktionen der USA (...) erfolgen dürfen."

Die Bemühungen der Regierung von US-Präsident George W. Bush, schon einen Tag nach dem Angriff auf das World Trade Center ein Mandat zum Angriff auf Afghanistan vom Sicherheitsrat zu bekommen, scheiterten bekanntlich.

Die Ausrufung des Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nato-Vertrags konnte das Mandat nicht ersetzen, und der Beschluss des Deutschen Bundestags im Dezember 2001, den USA zu Hilfe zu kommen, reichte nicht.

Es blieb eine Mission und ein Krieg der USA mit einigen mehr oder weniger treuen Vasallen.

So blieb auch McNamara letztlich nur die Erkenntnis: "Wie haben keinerlei von Gott verliehenes Recht, jede beliebige Nation nach unseren Vorstellungen zu formen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit einer unvollkommenen und unordentlichen Welt abzufinden."

Ursachen der Unvollkommenheit und Unordnung dieser Welt

Abgesehen davon, dass der Autor nicht so weit in seiner Analyse geht, die USA selbst als Ursache der Unvollkommenheit und Unordnung dieser Welt zu sehen, hätte seine Kritik genügend Argumente erbracht, nicht 26 Jahre nach dem Vietnam-Debakel die Neuordnung der Welt erneut mit militärischen Mitteln zu versuchen.

Denn so wie es in Vietnam um die Eindämmung der Expansion des Kommunismus - entsprechend der Dominotheorie - ging, so galt der Krieg in Afghanistan der Sicherung des strategischen Vorpostens gegen Russland und die Volksrepublik China.

Setzt man in der Analyse Mc Namaras Afghanistan an die Stelle von Vietnam, so passen alle eingestandenen Kritikpunkte auch auf diesen nun hoffentlich beendeten Krieg.

Der Vietcong war den USA und den europäischen Staaten bestimmt so fremd und gefährlich wie jetzt die Taliban. Es hat lange gedauert, bis die USA die Sanktionen gegen das neue Vietnam aufgehoben und zu einem normalen diplomatischen Verhältnis gefunden haben.

Und Henry Kissinger ist immer noch der Überzeugung, dass der Krieg in Afghanistan erfolgreich war, da er den Kommunismus stoppen konnte.

Mit einem möglichen Emirat Afghanistan werden die USA nun schneller auf eine diplomatische Ebene kommen, um ein Gegengewicht gegen Russland und die VR China in dieser strategisch so wichtigen Region zu erhalten. Sie werden sich aus diesem Land nicht vollkommen zurückziehen.

Schließlich haben sie mit den Wahabiten in Saudi-Arabien, deren Abkömmlinge die Mujaheddin wie die Taliban sind, glänzende Geschäfts- und Politbeziehungen.

Die Frage ist aber auch, welche Lehren Bundesregierung und Bundestag aus dem Desaster ziehen.

  • Werden sie einsehen, dass das jetzt eingestandene Scheitern schon im Dezember 2001 mit der Entscheidung, sich an Intervention und Besatzung der USA zu beteiligen, begann?
  • Werden sie darüber nachdenken, dass der Krieg nicht ein Werk der Taliban, sondern die Taliban die Folge von Krieg und Besatzung waren?
  • Werden sie den Unsinn der Struck’schen Formel "Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt" endlich einsehen?
  • Werden sie sich nicht immer wieder in militärische Abenteuer ihrer NATO-Nachbarn hineinziehen lassen, weil sie dabei sein und an der Beute beteiligt werden wollen?

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