"Das neue Wettrüsten hat bereits begonnen."

Kampfdrohne IAI Heron TP auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtmesse 2018 in Berlin. Bild: Matti Blume, CC BY-SA 4.0

Zu den Lehren aus dem Scheitern in Afghanistan, der westlichen Hybris und der neuen Weltordnung. Und warum Klimapolitik auch immer Friedenspolitik ist. Eine Rede

Am 1. September vor 82 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht Polen und entfesselte damit den Zweiten Weltkrieg. In dem Höllensturz der folgenden fünf Jahre fanden über 65 Millionen Menschen den Tod. Davon allein in der Sowjetunion 27 Millionen, und über 13 Millionen in China, wo das mit Nazi-Deutschland verbündete Japan wütete. Mehr als die Hälfte der Opfer waren Zivilisten.

Zugleich nutzte der deutsche Faschismus den Krieg, um in seinem Schatten das singuläre Menschheitsverbrechen der Schoah zu verüben.

Noch ein anderer Aspekt verdient es, an dieser Stelle hervorgehoben zu werden: Zwar ist Krieg immer und überall grauenhaft; zu den Besonderheiten des Zweiten Weltkriegs gehört jedoch, dass er im Osten - anders als im Westen - von vorneherein als totaler Vernichtungskrieg geplant war.

Ich zitiere den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier aus seiner Rede zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion:

Beamte im Reichssicherheitshauptamt planten mit zynischer Sorgfalt die Vernichtung. Sie planten einen Krieg, der die gesamte sowjetische Bevölkerung zum Gegner erklärte: vom Neugeborenen bis zum Greis. Es war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung." Und, so Steinmeier weiter: "Es lastet auf uns, dass wir den Opfern viel zu lange Anerkennung verwehrten.

Sein Ende fand der Zweite Weltkrieg mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Damit war zugleich eine neue Qualität von Monstrosität des Militärischen in die Welt gekommen. Seither besteht die makabre Fähigkeit zur Auslöschung der gesamten Menschheit durch einen Atomkrieg.

Auch das ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs, die als Bedrohung unvermindert über uns schwebt, auch wenn die Neigung des Homo Sapiens zur Verdrängung unangenehmer Fakten zur Gewöhnung auch an dieses Übel tendiert.

Wenn wir an diese Dinge erinnern, dann ist das nicht die Pflichtübung einer staatstragenden Gedächtniskultur, sondern von brennender Aktualität. Denn gerade in diesen Tagen wird uns wieder einmal vor Augen geführt, was Krieg bedeutet und wohin er führt.

Ich spreche vom Krieg in Afghanistan, an dem auch die deutsche Armee beteiligt war, und der jetzt hoffentlich zu Ende geht. Das Land am Hindukusch war seit 40 Jahren permanent im Kriegszustand.

Allein in der Zeit des Nato-Krieges sind 240.000 Tote zu beklagen, 98 Prozent auf afghanischer Seite. Darunter 48.000 Zivilisten.

Wie Joe Biden jetzt offen erklärte, ging es für Washington nicht um Afghanistan, sondern um US-Interessen: nach dem 11. September sollte Osama Bin Laden ausgeschaltet werden, den man noch in den 1980er-Jahren mit Waffen und US-Dollar gegen die sowjetische Militärpräsenz aufgepäppelt hatte. Und das, so Biden, sei ja schließlich gelungen!

Allerdings wurde Bin Laden in Pakistan und nicht in Afghanistan geschnappt, und das durch eine Kommandoaktion mit Polizeicharakter, und nicht dadurch, dass man ein ganzes Land mit Krieg überzieht. Die Offenheit des US-Präsidenten erklärt die letzten zwanzig Jahre zum Kollateralschaden.

Einmal mehr war also das Schicksal ganzer Länder und Millionen von Menschen Spielball geopolitischer Großmachtinteressen; oder wie es der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, im Jahr 2015 formulierte:

Unter den vielen Lügen, die den Einsatz des Westens in Afghanistan begleiteten, ist die größte wahrscheinlich diese: Es gehe um die Freiheit der Afghanen. Nein, es geht um Interessen, und darum ging es von Anfang an.

Navid Kermani

Vollkommen richtig. Aber das bedeutet auch, dass jene ihre Lektion lernen, die bis in weite Teile der liberalen Öffentlichkeit hinein gutgläubig der Illusion anhängen, Menschenrechte und westliche Demokratie ließen sich mit Hilfe von Panzern und Drohnen exportieren

Gesellschaften lassen sich nicht ohne weiteres umstürzen

Wie wir aus jahrzehntelanger Erfahrung in der Entwicklungspolitik wissen, lassen sich gesellschaftliche Verhältnisse, die über Jahrhunderte in den Tiefenschichten traditionaler Gesellschaften verwurzelt sind, nicht so ohne weiteres von oben umstürzen. Und auch nicht mit einem Schlag. Erst recht nicht von außen. Und schon gar nicht gestützt auf Gewehrläufe.

Dementsprechend desaströs sieht auch die Bilanz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Afghanistans aus. Der Krieg hat Entwicklungsanstrengungen massiv blockiert. Das Land blieb auch unter westlicher Besatzung eines der ärmsten Länder der Welt.

Im Ranking der menschlichen Entwicklung der UNO ist es seit 2014 sogar um fünf Plätze abgerutscht und lag 2019 auf Platz 169 (von 189). Auch das Pro-Kopf-Einkommen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken.

In der medialen Präsentation und öffentlichen Debatte dominieren derzeit die Bilder der dilettantischen Evakuierung, die Kritik an den Fehleinschätzungen von Regierungen und Geheimdiensten und an der Kaltschnäuzigkeit Washingtons im Umgang mit seinen Hilfstruppen.

So berechtigt das ist, so darf es nicht darüber hinwegtäuschen, dass der entscheidende und größte Fehler bereits vor 20 Jahren gemacht wurde, als die damals rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Bundeswehr in diesen Krieg schickte. Dieser Krieg hätte niemals begonnen werden dürfen.

Zumal man es hätte besser wissen können. Schon 1978 hatte die kommunistisch inspirierten Regierungen Nur Muhammad Taraki und Babrak Karmal Scharia, Burka, Zwangsverheiratung und Ähnliches verboten.

Das stieß aber auf so viel Widerstand, dass nur noch das militärische Eingreifen der Sowjetunion 1979 ihr Überleben ermöglichte. Das machte alles nur noch schlimmer. Zudem jetzt die USA in den Krieg einstiegen. Die Mudschaheddin, die westliche Propaganda nannte sie damals "Freiheitskämpfer", wurden massiv mit Waffen und US-Dollar unterstützt. Moskau musste sich nach zehn Jahren zurückziehen und die Mudschaheddin übernahmen die Macht, drei Jahre später die Taliban.

Es heißt, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Geschichte Afghanistans nach dem 11. September nimmt sich aus wie das Remake der Sowjetjahre. Die gleichen Fehleinschätzungen, die gleiche Selbstüberschätzung und am Schluss das gleiche Scheitern. Und jetzt wieder das Ganze auf null zurück.

Zudem ist Afghanistan nicht der einzige Fall, wo die Mischung aus geopolitischen Interessen und ein von missionarischem Eifer getriebener Export von Menschenrechten an der Wirklichkeit zerschellen. Der Irakkrieg 2003 und die Intervention in Libyen 2011 sind zwei weitere Beispiele.

Beide Länder sind heute gescheiterte Staaten. Der Preis an Tod, Zerstörung und Chaos, den die Bevölkerungen zu zahlen haben, steht in keinem Verhältnis zu dem Übel, das zu beseitigen man angeblich angetreten war.

Als Fazit lässt sich mit einem Kommentar aus der FAZ festhalten:

In Afghanistan (und anderswo) hat der Westen seine transformatorischen Kräfte dramatisch überschätzt. Daraus Lehren für die deutsche Außenpolitik zu ziehen ist der Auftrag aus dem Kabuler Debakel.

FAZ

Zu den Lehren, die zu ziehen sind, gehört jetzt als Erstes, sich nicht vor der Verantwortung für all jene Menschen zu drücken, die durch das Scheitern der Nato in direkte Gefahr gebracht wurden.

Das gilt auf Bundes- und Landesebene bis zur Kommune, in unserem Fall der Stadt Worms. Afghanische Flüchtlinge müssen ohne bürokratische Hindernisse aufgenommen und bei der Integration unterstützt werden.

Afghanistan zeigt so klar und deutlich wie kein anderer Fall, dass die Hauptursachen für Flucht und Migration hier bei uns liegen. Dennoch wollen die EU-Innenminister, wie bei ihrer jüngsten Tagung, das Problem auf die Länder der Region abwälzen. Das ist ein Monument an politisch-moralischer Verkommenheit. Die wertebasierte Außenpolitik lässt die Maske fallen.

Allerdings reicht es nicht, Flüchtlinge großzügig aufzunehmen. Notwendig ist ein internationales Wiederaufbauprogramm für die 38 Millionen Afghanen, die im Land bleiben und von denen schon jetzt zwölf Millionen von Hunger bedroht sind.