Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Einschulung, Migration, alte/neue Bundesländer und warum ist Würzburg so schlimm?

Beim letzten Mal behandelte ich häufige Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Bei weiteren Recherchen stieß ich auf einige Kuriositäten, über die ich nun meine Leserinnen und Leser informieren möchte:

Hätten Sie gedacht, dass das Alter bei der Einschulung den größten Einfluss auf die ADHS-Diagnose hat? Das konnten sich einige nicht gut vorstellen. Inzwischen habe ich anschauliches Bildmaterial dafür. Und was haben der Migrationshintergrund oder die alten beziehungsweise neuen Bundesländer mit Diagnose und Therapie zu tun? Und wieso wird die Störung in und um Würzburg am häufigsten diagnostiziert?

Was ist ADHS?

Zuerst möchte ich aber noch ein paar Grundlagen vermitteln. Was ist ADHS überhaupt? Vor Jahren erklärte ich bereits, dass es diese Kategorie erst seit den 1980ern gibt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Seitdem wurde sie von der US-amerikanischen Psychiatrie um den Globus verbreitet. (Dazu immer noch lesenswert: Ethan Watters' "Crazy Like Us: The Globalization of the American Psyche" von 2010, in dem solche Vorgänge an den Beispielen Depression, Magersucht und Schizophrenie veranschaulicht werden.)

Das zurzeit noch in vielen Ländern geltende Diagnosehandbuch ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, das es seit den 1990ern gibt und seitdem in kleinen Schritten aktualisiert wurde, enthält noch keine ADHS. Das wird sich mit dem neuen ICD-11 ändern, das ab 2022 in vielen Ländern verbindlich werden soll. Darin wird die Störung wie folgt beschrieben (ich übersetze aus dem Englischen). Die Sprache ist etwas kompliziert, typisch Mediziner:

ICD-11, 6A05: ADHS

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung wird durch ein anhaltendes Muster (mindestens sechs Monate) von Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität charakterisiert, das direkte negative Auswirkungen auf das akademische, berufliche oder soziale Funktionieren hat. Es gibt Hinweise auf Symptome von signifikantem Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität vor dem zwölften Lebensjahr, üblicherweise in der frühen bis mittleren Kindheit, auch wenn manche Individuen erst später klinisch auffallen mögen.

Das Maß des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität ist außerhalb der Grenzen der normalen Variation, die für das Alter und die intellektuelle Entwicklung zu erwarten sind.

Aufmerksamkeitsdefizit bedeutet die signifikante Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben aufrechtzuerhalten, die kein hohes Reizniveau oder keine häufigen Belohnungen aufweisen, auf Ablenkbarkeit und Probleme bei der Organisation.

Hyperaktivität bedeutet überschüssige motorische Aktivität und Probleme mit dem Stillsitzen, am auffälligsten in strukturierten Situationen, die eine Selbstkontrolle des Verhaltens erfordern. Impulsivität ist eine Tendenz, auf unmittelbare Reize zu reagieren, ohne die Risiken oder Konsequenzen abzuwägen.

Die relative Gewichtung und die spezifische Ausprägung des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität unterscheidet sich zwischen den Individuen und kann sich im Laufe der Entwicklung verändern.

Damit eine Diagnose gestellt werden kann, müssen Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität in verschiedenen Situationen oder Umgebungen erkennbar sein (zum Beispiel zuhause, in der Schule, auf der Arbeit, mit Freunden oder Verwandten), können sich wahrscheinlich aber verändern, je nach Struktur und Anforderungen der Umgebung.

Die Symptome lassen sich nicht durch eine andere psychische Störung, Verhaltensstörung oder neuronale Entwicklungsstörung besser erklären und sind auch nicht durch eine Substanz oder ein Medikament bedingt.

Reich der Normen

Wenn von einem "signifikanten Defizit", von "Grenzen normaler Variation", der "üblichen" Entwicklung und vielem Anderem mehr die Rede ist, dann bewegen wir uns im Reich der Normen. Das heißt, gesellschaftliche Akteure und Institutionen (hier: die Weltgesundheitsorganisation auf Grundlage psychiatrischer Gutachter) ziehen eine Grenze dafür, welches Verhalten als normal oder abweichend angesehen wird. In letzterem Fall nennen wir es: Störung.

Das ist insofern nichts Neues, als Gesellschaften das mit moralischen und strafrechtlichen Regeln auch tun. Jemandem etwas ohne dessen Zustimmung wegzunehmen, heißt in der Regel "Diebstahl" und wird bestraft (§ 242 StGB). Solche Regeln/Normen beeinflussen (wortwörtlich: regeln) unser Miteinander.

Bedenkenswert ist bei der Definition im ICD-11 auch, wie das Aufmerksamkeitsdefizit in Bezug zu - ich sage mal salopp: eher langweiligen - Situationen gesetzt wird. Bei dem von mir kürzlich beschriebenen Versuch, mit "Denken im Schneckentempo" (engl. Sluggish Cognitive Tempo, SCT) eine neue Form von ADHS zu definieren, war das ein wesentliches Kriterium: hat Schwierigkeiten damit, in langweiligen Situationen wach oder aufmerksam zu bleiben.

Hat der Mensch in einer anderen Situation, bei einer anderen Aufgabe, die er als weniger "langweilig" erfährt, genug Aufmerksamkeit? Reagiert er dann weniger hyperaktiv und impulsiv? Liegt es dann wirklich nur an ihm?

Hieran sehen wir, dass eine psychologisch-psychiatrische Diagnose das Problem im Individuum lokalisiert. Dabei geht es immer um ein Zusammenspiel von Mensch und Umgebung.