Russland und die Taliban: Keine Freundschaft und keine Sympathie

Kabul im August 2021. Bild: VOA/gemeinfrei

Der Moskauer Pragmatismus ähnelt dem deutschen, auch wenn das Medien hierzulande anders sehen wollen

Der neue Moskauer Pragmatismus gegenüber den Taliban hat nichts mit Sympathie zu tun, wie es Russland von einigen deutschen Medien unterstellt wird. Im Gegensatz dazu resultiert er aus geopolitischen Erwägungen - und ist dabei gar nicht weit entfernt von der aktuellen deutschen Politik.

In großen deutschen Medien wird das Bild verbreitet, Russland betrachte die Machtübernahme der Taliban als positiv, habe nur Angst vor Flüchtlingen in die eigene Richtung. Studiert man die russische Presse intensiv und nicht selektiv auf der Suche nach gewünschten Eindrücken, bietet sich jedoch ein ganz anderer Eindruck. So berichtet die Onlinezeitung Lenta ausführlich vom Entsetzen vieler modernerer Afghanen über die Machtübernahme der Islamisten und einer Erinnerung an eine "barbarische Ordnung", die diese bei ihrer letzten Herrschaft errichtet hätten.

Kein positives Bild der Taliban in vielen russischen Medien

Die Taliban - so Lenta weiter - seien sehr bemüht, ihr Image zu ändern, sprächen sogar vom Kampf gegen den Klimawandel, einem Stopp der Drogenproduktion und dem Recht auf Bildung. Jedoch sei es offen, inwieweit solche Versprechen gehalten werden, da ihre aktuellen Werte auf der gleichen ideologischen Grundlage basierten wie vor 20 Jahren.

So zitiert Lenta den St. Petersburger Professor Ruslan Schamgunow. Er hält die "Mäßigung" der Taliban für reine Rhetorik, um Nachbarstaaten in Zentralasien nicht zu beunruhigen und von Eingriffen von außen abzuhalten.

Die Führer der Dschihadisten seien die gleichen, die in den 1990er Jahren aktiv Massaker an der Bevölkerung verübt hätten, erste Versprechen seien bereits gebrochen worden. Die Taliban hätten nicht nur Verbindungen zu anderen terroristischen Organisationen, sondern betrieben auch selbst Terror und lebe von Einnahmen aus dem Drogenanbau. Auch die russische Zeitung Kommersant glaubt, dass unter der Herrschaft der Taliban ein internes Chaos entsteht, in dem sich Kämpfer des IS und weiterer Terrororganisationen vor Ort festsetzen werden.

Experten skeptisch - Politik pragmatisch

Diese Darstellung ist weit von dem behaupteten positiven Taliban-Bild in Russland entfernt und wird auch von russischen Experten gestützt. So beschrieb Professor Andrej Kasanzew von der Moskauer Higher School of Economics die Taliban gegenüber Telepolis im Interview als Konstrukt aus Truppen von Warlords, auf deren Zusagen kein Verlass sei, da die politische Führung oft kaum Einfluss auf die kämpfende Truppe habe.

Zurückhaltend mit Taliban-Kritik ist tatsächlich aktuell die politische Spitze in Moskau, was jedoch nicht in einer irgendwie gearteten Sympathie, sondern - neben etwas Schadenfreude gegenüber dem verfeindeten Westen - in taktischen und geopolitischen Erwägungen seine Ursache hat. Und im Pragmatismus der russischen Außenpolitik.

Ein Sprecher des russischen Außenministeriums bezeichnete die Machtübernahme der Taliban als "Realität des Lebens". Moskau sei deswegen gezwungen, die Beziehungen zu ihnen ausbauen. Dennoch zögert man damit, die Taliban von der russischen Liste der Terrororganisationen zu streichen.

Der Blick auf regionale Geopolitik

Allgemein stehen regionale, geopolitische Aspekte stark im Fokus von russischen Politikern und Experten, den Zentralasien befindet sich in direkter russischer Nachbarschaft. Eine mögliche Folge der Machtübernahme der Taliban könne eine Verschiebungen des Einflusses regionaler Mächte in der Region sein, kommentiert der russische Politologe Andrej Kortunow, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, die Lage in Afghanistan.

Pakistan, das immer gute Beziehungen zu den Dschihadisten gehabt habe, werde gestärkt, Indien dagegen fehle jeder Draht zu den neuen Herrschern in Kabul. Auch der Iran habe ein schwieriges Verhältnis zu den Taliban, sei er doch die Schutzmacht einer schiitischen Minderheit in Afghanistan, die die Taliban unterdrückten.

Genau aus Schutzmachtverhältnissen heraus glauben auch viele Experten in Moskau nicht, dass das Verhältnis zwischen den Taliban und dem Kreml jemals innig wird. Die wichtigsten Verbündeten Russlands in Zentralasien sind die dortigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wie Tadschikistan und Usbekistan. In Afghanistan gibt es Minderheiten dieser Völker, die der Herrschaft der von der Volkszugehörigkeit vor allem paschtunischen Taliban sehr kritisch bis feindselig gegenüberstehen.

Letzter Widerstand gegen Taliban mit geringen Aussichten

Auch der letzte militärische Widerstand gegen die Taliban im Pandschir-Tal wird vor allem von der tadschikischen Minderheit getragen und deren Anführer Ahmad Massoud geleitet. Dieser wandte sich über das wichtige dortige Medienportal RBK bereits Ende August an die russische Regierung mit der Bitte um Unterstützung seines Anti-Taliban-Kampfes.

Mit einer solchen kann er nicht rechnen, da er sowohl nach Ansicht der zuständigen russischen Diplomaten als auch von Moskauer Experten keine Chance hat, die Taliban militärisch zu bezwingen. So fehle es seinen Truppen an Kampfkraft - auch der Nachschub in Pandschir-Tal sei nach russischer Ansicht kaum zu bewältigen, da das Gebiet nicht an einer Außengrenze zu einem unterstützenden Staat liegt.

Mittlerweile erklärten die Taliban, dass sie diese Provinz bereits erobert haben; Moskau hatte sich zuvor auf die Rolle eines Vermittlers konzentriert und forderte die Taliban auf, ihn friedlich beizulegen.

Insgesamt rechnet Andrej Kortunow damit, dass sehr viele Staaten, die die Taliban offiziell nicht anerkennen, dennoch mit ihnen interagieren würden - eine Vermutung, die selbst der scheidende deutsche Außenmister Maas mit aktuellen Angeboten an die Dschihadisten bestätigt.

Während die deutsche Presse auf Russland und seine vorgeblich perfekten Taliban-Beziehungen mit dem Finger zeigt, hat sich auch die eigene Politik, ebenso wie die russische, vom strikten Anti-Taliban Kurs aus pragmatischen Gründen schon längst verabschiedet. Eine Tatsache, die in den moralisierenden deutschen Redaktionsstuben nicht gut ankommt, die aber vor allem dort heftig kritisiert wird, wo das eigene Feindbild passt.

Aber wie es Außenpolitik-Urgestein Egon Bahr schon vor langer Zeit aussagte: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten." Das gilt in Berlin ebenso wie in Moskau.