Zwanzig Jahre nach "Nine Eleven"

Die humanitären Kosten der nachfolgenden US- und Nato-Kriege

Dem jüngsten Bericht des "Costs of War"-Projekts an der US-amerikanischen Brown University in Rhode Island zufolge wurden durch die nach dem 11. September 2001 von den USA und ihren Verbündeten entfesselten Kriege über 900.000 Menschen getötet.

Berücksichtigt man die großen Lücken bei der Erfassung und die weit höhere Zahl von indirekten Todesopfern, kann die tatsächliche Zahl vier Millionen übersteigen. Noch weit mehr Menschen in den betroffenen Ländern wurden durch die Kriege verwundet und traumatisiert, über 38 Millionen vertrieben.

Vor fast 20 Jahren, vier Wochen nach den Terroranschlägen in New York, Washington und Pennsylvania, begannen die USA am 7. Oktober 2001 mit dem Überfall auf Afghanistan ihren "Globalen Krieg gegen den Terror", den sie mittlerweile auf über 80 Länder ausgeweitet haben.1 Im März 2003 folgte der Feldzug gegen den Irak.

Zwar wurden die Kriege gegen Afghanistan und Irak von den USA und ihren Verbündeten zunächst mit präventiver bzw. "präemptiver Selbstverteidigung" gerechtfertigt, ihre Fortsetzung aber überwiegend mit humanitären Zielen, wie der Verteidigung von Menschenrechten. Letzteres gilt auch für den Nato-Krieg gegen Libyen und die Intervention in Syrien.

Es wurden aber nie Anstrengungen unternommen, die humanitären Kosten dieser Art "humanitärer Interventionen" zu ermitteln.

Eine Metastudie der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), die die verfügbaren Untersuchungen auswertete, schätzte die Gesamtzahl aller Opfer in den zunächst hauptsächlich betroffenen Ländern, Afghanistan, Pakistan und Irak nach den ersten zehn Jahren bereits auf mindestens 1,3 Millionen.2

Für das zweite Jahrzehnt der "Post 9/11-Kriege", wie die westlichen Weltordnungskriege dieses Jahrhunderts in den USA genannt werden, steht eine ähnlich sorgfältige Analyse noch aus.

Neta Crawford und Catherine Lutz vom renommierten "Costs of War"-Projekt, haben jedoch immer wieder Fallzahlen für Afghanistan, Pakistan und Irak, später auch für Syrien und Jemen veröffentlicht. Ihrem aktuellen Bericht zufolge wurden in diesen fünf Ländern bis August 2021 über 900.000 Menschen bei Kampfhandlungen getötet, rund 375.000 davon stuften sie als zivile Opfer ein.3

Diese Zahlen beruhen allerdings nur auf passiv beobachteten, das heißt von Medien und ähnlichen Quellen gemeldeten oder von Kliniken registrierten Fällen. Unter Kriegsbedingungen kann so jedoch, nur ein Bruchteil erfasst werden, abhängig von der Intensität der Kämpfe.

Tatsächliche Opferzahl ist wohl höher

Auch die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten ist meist schwierig. Die Autorinnen gehen daher davon aus, dass sowohl die tatsächliche Zahl der Getöteten wesentlich höher ist, wie auch der Anteil der Zivilisten.

Nicht enthalten sind die indirekten Opfer der Kriege, die aufgrund des Zusammenbrechens der Versorgung mit Nahrung, Wasser und Strom, blockiertem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen oder dem kriegsbedingten Ausbruch von Seuchen starben.

Deren Zahl übersteigt die der direkten Opfer in der Regel um ein Vielfaches. Generell müsse man, so "Costs of War"-Mitarbeiter David Vine, von insgesamt viermal so vielen Toten ausgehen, wie sie ermittelt hätten. Ende Oktober 2019 schätzte er sie bereits auf 3,1 Millionen.4

Vine verwies dabei auf eine Vergleichsstudie der "Geneva Declaration"-Initiative, der zufolge die Zahl der indirekten Todesfälle in den meisten bewaffneten Konflikten drei- bis fünfzehnmal so hoch war wie die Zahl der direkten.5

Die IPPNW-Studie kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Vergleich mit Mortalitätsstudien zum Irak ergab, dass die durch repräsentative Umfragen ermittelten realistischen Schätzungen mindestens fünf bis achtmal so hoch sind, wie die durch passives Beobachten erfassten Opferzahlen.

In Afghanistan wurden Crawford und Lutz zufolge rund 170.000 Afghaninnen und Afghanen im Laufe des fast zwanzigjährigen US- und Nato-Kriegs direkt durch Kampfhandlungen getötet. Wir müssen also allein in diesem Land von mindestens 800.000, möglicherweise aber auch von mehr als einer Million direkten und indirekten Opfern ausgehen, über 40.000 pro Jahr.

Rund 284.000 Iraker:innen fielen gemäß den von den beiden Wissenschaftlerinnen gesammelten Informationen unmittelbar dem Krieg in ihrem Land zum Opfer. Damit hat sich die Zahl gegenüber den 165.000 Kriegstoten, die sie für die ersten acht Jahre ermittelten, nach 2011 fast noch einmal verdoppelt.

Auf Basis der Mortalitätsstudien im Irak schätzte die IPPNW-Studie die Gesamtzahl der irakischen Opfer bis 2011 recht konservativ auf mindestens eine Million Toten.

Rechnet man diese entsprechend hoch, müssen wir mittlerweile von über 1,8 Millionen Toten im Irak ausgehen. Allein 90.000 davon wurden, einer repräsentativen Untersuchung zufolge, die im Mai 2018 in der Fachzeitschrift PLOS Medicine veröffentlicht wurde, Opfer der Rückeroberung der Millionenstadt Mossul aus den Händen des "Islamischen Staates".6

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