"Begrenzung auf 1,5 Grad mit unserem Wirtschaftssystem nicht hinzubekommen"

Neuwagen in Parkanlage. Bild: Max Pixel, CC0 1.0

Der Ökonom Helge Peukert über dominante Strömungen in den Wirtschaftswissenschaften, Risikoforschung und Klimawandel

Prof. Dr. Dr. Helge Peukert lehrt Wirtschaftswissenschaft an der Universität Siegen. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Klimawandel in seinem Buch Klimaneutralität.Jetzt und gehört zu den Wirtschaftswissenschaftlern, die mit verschiedenen Methoden wirtschaftliche Verhältnisse betrachten und Lösungen für Probleme suchen - den sogenannten heterodoxen Ökonomen. Telepolis hat Helge Peukert gefragt, wie er die Forschung in den Wirtschaftswissenschaften beurteilt, was anders werden muss und vor welchen Herausforderungen die neue Bundesregierung stehen wird.

Herr Peukert, eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IZA) hat Wirtschaftswissenschaftler befragt, wie sie mit den Schwerpunkten der Forschung in der Ökonomie zufrieden sind. Das Ergebnis ist: Nur etwa 30 Prozent der befragten 10.000 Wissenschaftler, basierend auf dem Journal für Economic Literature, sind mit den gegenwärtigen Forschungsschwerpunkten zufrieden. Wundert Sie das?

Helge Peukert: Nein, natürlich nicht. Unstrittig ist einerseits, dass vor allem, was empirische Forschung betrifft, interessante und wichtige Daten und Zusammenhänge ermittelt werden, die sogar für heterodoxe Ökonomen wie mich unverzichtbar sind. Andererseits ist schon rein methodisch gesehen eine starke Verengung zu verzeichnen, indem man stark auf Modellierung pocht, das heißt mathematisch formulierbare Kausalzusammenhänge aufstellt, die dann empirisch belegt werden sollen.

Hinzu kommt, dass es praktisch seit Jahrzehnten überhaupt keine Berufungen an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten aus den Denkschulen des Postkeynesianismus, des Feminismus, der Historischen Schule, der Sozioökonomie, des Marxismus und des kritischen Altinstitutionalismus (Thorstein Veblen, der schon vor über 100 Jahren belegte, wie wichtig Institutionen für ökonomische Entwicklungen sind) kommt.

Selbst der typisch deutsche Ordoliberalismus (Eucken-Schule nach 1945), der sich einer konsequent dezentralen Wirtschaftsform verschrieb, hat keine Vertreter mehr. So dominiert in der Volkswirtschaftslehre ein internationaler Mainstream, der optimierte formale Modelle aufstellt, die viele Bereiche wirtschaftlicher Verhältnisse, wie eben Feminismus, historische Schule, ausschließt, genauso den Postkeynesianismus, der die Bedeutung von Nachfrage und Bedarf als mindestens genauso wichtig erachtet, wie gute Bedingungen für Unternehmen.

Viele Wirtschaftswissenschaftler meinen in der Untersuchung des IZA, dass wirtschaftspolitische Forschung, Multidisziplinarität und Risikoforschung wesentlich mehr in das Blickfeld kommen sollten. Würden Sie das unterstreichen und welche Forschungsfelder sind für Sie wichtig?

Helge Peukert: Es freut mich, wenn dies tatsächlich viele Wirtschaftswissenschaftler so sehen. Ich teile diese Ansicht und habe weiter oben schon auf ausgegrenzte Denkschulen hingewiesen.

Das ist kaum verwunderlich: Wenn sich ein heterodoxer Ökonom auf eine Professur bewirbt und im Teich der Kommission nur gelbe Frösche des Mainstreams befinden und der Bewerber sagt: Ich bin ein bekennender blauer Frosch, der Überlegungen der gelben Frösche kritisiert, dann nimmt man nicht ihn, sondern einen gelben Frosch.

Das ist allzu menschlich, aber das ist der Pluralität der sich womöglich ergänzenden Perspektiven in der Wissenschaft abträglich und das Gegenteil einer - nennen wir es mal so - liberal-offenen Wissenschaftslandschaft.

Die EZB als zentraler Politakteur

Was müsste also anders werden, wo sehen Sie wichtig Defizite, zum Beispiel bei den Banken?

Helge Peukert: Was wesentlich fehlt, sind Ansätze eines gesamtökonomischen Blickwinkels. Nehmen wir den sich entwickelnden staatsmonopolistischen Zentralbankkapitalismus. Hier gehen die durch die Deregulierung und Globalisierung geschwächten Staaten und sogar Staatengemeinschaften wie die EU - durch internen Zwist - ein relativ neuartiges Zweckbündnis mit den monetären Bürokraten -vor allem der Zentralbanken wie der EZB - und den Banken ein.

Die EZB wird zum zentralen Politakteur, lender, buyer of last resort, market maker, um mal Fachbegriffe zu nennen. Sie wird Rundumfeuerwehr (whatever it takes), kauft mit Billionen Staatsanleihen an, wird zum zentralen Spielgesellen auch der Schattenbanken. Man wundert sich immer wieder, wie regelrecht infantil hier auch professorale Experten im Bereich der Geld- und Finanztheorie und -praxis diese Entwicklungen ausklammern oder das alte Mantra der Orientierung an der Preisstabilität herunterbeten.

Durch die Nullzinspolitik, Vollzuteilung bei Zentralbankgeld, Fremdwährungsswaps, Verwässerung bis an die Grenze bei den von Banken zu hinterlegenden Sicherheiten, und QE (Quantitative Easing) mit 3,0 Billionen, sowie Negativzinsen, sind wir so ziemlich beim Gegenteil dessen angelangt, was nicht nur den Deutschen bei Einführung des Euro als Grundprinzipien erzählt wurde und schließlich auch in den entsprechenden europäischen Verträgen steht.

Welche Folgen hat diese Politik aus Ihrer Sicht, gerade der EZB?

Helge Peukert: Die mit dieser EZB-Politik einhergehende Vermögenspreisinflation treibt die Mieten in die Höhe, verstärkt die soziale Ungleichheit, enteignet über Negativzinsen den kleinen Mann auf dem Spar- oder Girokonto und drängt die vernünftigerweise sich vom spekulativen Finanzmarkt fernhaltende Mehrheit der Bürger auf die Aktienmärkte, was rechtspopulistischen Parteien in die Hände spielt.

Der Durchschnittsbürger wird zum Zwangsspekulanten, der wohl wieder einmal zu spät einsteigt, und wenn die nächste Finanzkrise naht, zu früh aussteigen wird. Kurzum: alle diese Aspekte müssen bei wirtschaftspolitischen Reflexionen, Beurteilungen und Reformvorschlägen bedacht werden. Das ist eine herausfordernde Aufgabe für die neue Bundesregierung nach der Wahl am 26. September, die unbedingt in Angriff genommen werden muss.

Wird die ökonomische Entwicklung häufig also zu einseitig gesehen? Brauchen wir einen breiteren Blick?

Helge Peukert: In Deutschland gab es einmal die Deutsche Historische Schule, die aus den Hochschulen ausgegrenzt wurde. Sie hatte einen breiten Blickwinkel für die ökonomischen Probleme, auch einen gesellschaftlichen. Zwar wird ab und an die Vermögensungleichheit kritisiert, aber wer stellt kritisch die Profiteure der Internationale der Globalisten, nämlich die Zentralbanken, die Finanzgroßwirtschaft, Mediengiganten, internationale (IT-)Konzerne, das Politikestablishment infrage?

Es gibt Wirtschaftswissenschaftler wie Heinz Bontrup oder Ralf Marquardt, die diese Fragen auch in ihrem Lehrbuch thematisieren, was immer noch zu selten geschieht. Besonders bedenklich finde ich, dass angesichts der Klimakatastrophe, die mittlerweile vor der eigenen Haustür angekommen ist, viel zu wenig Professuren in diesem Bereich eingerichtet werden.

Die dominanten Lehrbücher für die Studenten sind nach wie vor von Kopf bis Fuß auf Wachstum eingestellt. Auch fehlt es völlig an Professuren mit finanzieller Unabhängigkeit von "politikfähiger" Drittmittelforschung.