Vor dem Laschet-Wunder?

Foto: Steffen Prößdorf/CC BY-SA 4.0

Am Tag des Fotofinishs: Heute wählt Alt gegen Jung. Siegt die Vergangenheit über die Zukunft?

Heute ist ein außergewöhnlicher Tag. Am Abend oder irgendwann in der Nacht zum Montag wird so oder so eine außerordentliche, überaus ungewöhnliche Entscheidung gefallen sein. Entweder wird mit Olaf Scholz die SPD zum ersten Mal seit der Bundestagswahl 1998 und erst zum dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zur stärksten Partei gewählt. Oder Armin Laschet wird doch noch entgegen aller Umfragen und aller Vermutungen die CDU zu einem Wahlsieg und damit sich ins Kanzleramt führen.

Wer wird heute vorne liegen? Heute Abend werden wir zumindest zwei haushohe Verlierer erleben: Die Grünen und die Union. Die Grünen werden sich als Sieger präsentieren, und gegenüber der letzten Wahl sind sie es auch, das Scherbengericht über den katastrophal verbockten Wahlkampf wird dort erst in einigen Tagen beginnen.

In der Union beginnt es um 17.59 Uhr. Denn selbst wenn Arnin Laschet nachher noch eine Nasenspitze vor Olaf Scholz liegen sollte, so steht doch bereits fest: Heute Abend erleben wir das mit Abstand schlechteste Ergebnis der CDU/CSU seit ihrer Gründung. Und wenn Laschet gar hinter Scholz landet...

Selbstzerstörung einer Volkspartei

Noch vor etwas weniger als drei Monaten, Anfang Juli 2021, stand Armin Laschet als nächster Bundeskanzler quasi fest. Die Union lag bei über 30 Prozent, die Grünen um die 20, die SPD abgeschlagen um die 15 Prozent. Sollte es nicht für Schwarzgrün reichen, dann eben für Jamaika.

Dann kam die Flut, das Lachen und dessen mediales Aufblasen zur Charakterschwäche, der Absturz. Auf einmal wollten die Menschen den Scholz in der Brandung.

Die Union erlebt damit ein Ergebnis, das noch vor einem Jahr unvorstellbar war. Damals stand die Union bei rund 40 Prozent, im Sommer noch bei bis zu 33. Schuld daran trägt aber keineswegs nur eine schlechte Performance bei einzelnen Gelegenheiten oder die Tatsache, dass Laschet schwerer einzuschätzen scheint als Scholz, sondern auch der Rachefeldzug, den Markus Söder seit seinem Scheitern als Kanzlerkandidat gegen Laschet und die CDU insgesamt geführt hat. Söder ist der Haupttreiber bei der Selbstzerstörung der Union als Volkspartei.

Es dürften so oder so langwierige Koalitionsverhandlungen werden, bei denen auch symbolische Gesten eine wichtige Rolle spielen. Gut möglich, dass die Grünen pro forma Verhandlungen mit der Union aufnehmen, dass es Sondierungen geben wird; gut möglich, dass Koalitionsverhandlungen auch deswegen in die Länge gezogen werden, um zu zeigen, wie viel Mühe man sich gibt, etwas für die eigenen Wähler herauszuholen.

Aber wahrscheinlich ist auch, dass der Wahlsieger zunächst einmal den Auftrag für eine Regierungsbildung bekommt und deswegen Olaf Scholz als erster die Möglichkeit hat, mit allen Parteien Sondierungsgespräche zu führen und sowohl Union als auch die Linke an den Verhandlungstisch einzuladen, auch wenn er nicht ernsthaft die Absicht hat, mit ihnen eine Koalition zu bilden.

Der Mann der letzten Tage

Es deutet trotzdem einiges darauf hin, dass es Laschet doch noch schaffen könnte. Im ZDF-Politbarometer vom vergangenen Donnerstag lag der Abstand zwischen SPD und Union nur noch bei 2 Prozentpunkten (25 zu 23 Prozent). Sehr oft, aber nicht immer liegen in diesen Umfragen die Grünen etwas über ihrem späteren Wahlergebnis, Union und AfD etwas darunter.

Führung ist Führung, also steht die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufseiten der SPD. Die Frage wird am Ende auch sein, wer besser mobilisiert? Hier lautet die Antwort: Olaf Scholz. Zumal der mit Wähler-Vertrauen punkten kann, und es ihm eigentlich genügen würde, die alten Merkel-Wahlplakate mit seinem Konterfei zu überkleben: "Sie kennen mich"

Aber Armin Laschet ist schon immer ein Mann der letzten Tage. Und die Chancen für ein Laschet-Wunder stehen besser als viele glauben. Wie konnte es soweit kommen?

Neben den Nehmerqualitäten, dem Standvermögen und der Schlussspurterfahrung ihres Kandidaten dürften sich zumindest folgende stabile Faktoren zugunsten der Union auswirken: 38 Prozent der Wähler sind über 60 Jahre alt. 21 Prozent sogar über 70. Diese über 60-Jährigen sind die Kernzielgruppe der Union. 2017 stimmte über die Hälfte aller über 80-Jährigen für CDU/CSU.

Gegenüber diesem gut ein Drittel der Alten stehen nur 3,1 Prozent Erstwähler. Dementsprechend wird in Deutschland seit Jahrzehnten Politik für Senioren gemacht; dementsprechend ist die Veränderungsbereitschaft der Deutschen sehr begrenzt. Weil es bei Wahlen zwar um die Zukunft geht, diese Zukunft aber nur maximal noch 30 Jahre dauert, nicht 60 bis 70 Jahre. Dafür werden insbesondere die Grünen gerade bestraft.

Symbolische Veränderungsfähigkeit, simulierter Veränderungswillen, suggerierte Veränderungsunfähigkeit

Die Union dagegen verspricht Wandel ohne Veränderung, Opfer ohne Verzicht, billige Benzinpreise und CO2-Bepreisung, ein "Modernisierungsjahrzehnt" und "Bewahrung der Schöpfung", "mehr Verantwortung" und "mehr Freiheit".

Diese programmatische eierlegende Wollmilchsau dient zu einer asymmetrischen Mobilisierung. Wie schon in 16 Merkel-Jahren sollen die Wähler sediert werden, symbolische Veränderungsfähigkeit und simulierter Veränderungswillen ("Wir schaffen das") wird mit der Suggestion von Veränderungsunfähigkeit ("Alternativlosigkeit") gepaart.

Politische Romantik

Was dieser Haltung tatsächlich zugrunde liegt, ist ähnlich wie bei der Partei Die Linke und bei der AfD eine tiefsitzende politische Romantik: Es ist die Verachtung des Rationalitätversprechens, das jedem politischen Programm und jedem politischen Lösungsvorschlag innewohnt, und diese von bloßer Ideologie unterscheidet.

In einem erschreckend unpolitischen, den Rest der Welt komplett ignorierenden Wahlkampf sind derartige Rationalitätsversprechen nicht besonders hoch angesehen. Stattdessen bietet man vermeintliche Sicherheit in ideologischen Phrasen und in der inszenierten Gemütlichkeit politischer Wohlgefühle.

Rationalität hat hier deswegen keinen Platz, weil sie mit Streit einhergeht, mit öffentlicher Uneinigkeit - die von den Wählern bestraft wird, und die natürlich auch gesamtgesellschaftlich nur dann produktiv funktioniert, wenn dieser Streit auf der Basis gemeinsamer gelebter Prinzipien geführt wird. Die es in der Union jenseits des Machterhalts nicht gibt.