"Militär alleine kann keine Krisen und Konflikte lösen"

Der Bundeswehr-Offizier a.D. Jürgen Heiducoff über die Geburtsfehler des Afghanistan-Einsatzes, das Schicksal ehemaliger Kameraden vor Ort und Lehren für laufende sowie künftige Einsätze

Sie haben bereits im Jahr 2007 in einem Brief an den damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Abkehr von der militärischen Logik des Afghanistan-Einsatzes gefordert. Sehen Sie nun eine Chance für einen solchen Weg?

Jürgen Heiducoff: Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen der Nato ist beendet. Seit meinem "Brandbrief aus Kabul" sind 14 Jahre vergangen. Im Verlaufe dieser Zeit haben viele Delegationen der Bundesregierung, einzelner Ministerien und des Deutschen Bundestages Afghanistan besucht, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Die entsprechenden Berichte bildeten die Grundlage für die Afghanistanpolitik und die Afghanistanstrategie der Bundesregierung. Daraus entstanden zunächst auch die periodischen "Fortschrittsberichte Afghanistan".

Ich war in den Jahren 2004/05 im Stab der Kabul Multinational Brigade und in den Jahren 2006 bis 2008 als militärpolitischer Berater an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland tätig. In diesen Funktionen gehörte es zu meinen Aufgaben, Besuche der Delegationen von Politikern vorzubereiten, zu begleiten und auszuwerten. Ich habe die Programme immer so gestaltet, dass ein objektives Lagebild entsteht.

Aber war Afghanistan für die politischen Entscheider nicht immer zu weit weg? Wie konnten Sie Ihre unmittelbaren, persönlichen Erfahrungen überhaupt vermitteln?

Jürgen Heiducoff: Ich erinnere mich an aus meiner Sicht gelungene Besuchsverläufe mit Kontakten zwischen dem damaligen MdB Nachtwei (Grüne) und Gesprächspartnern aus verschiedenen Lagern der afghanischen Zivilgesellschaft. Es gelang mit der damaligen Abgeordneten Elke Hoff (FDP) die Kampfgebiete um Kandahar und Uruzgan zu besuchen.

Gespräche mit einem Gouverneur sowie Verantwortlichen der zivilen und militärischen Vertreter in Provincial Reconstruction Teams (PRT) ergaben eine differenzierte Darstellung der Erfolge und Probleme.

Doch Besuche dieser Art mit den daraus resultierenden objektiven, der Realität entsprechenden Schlussfolgerungen bildeten leider eine Ausnahme. In den meisten Fällen wurde den politischen Delegationen ein geschöntes Bild über die Lage im Verantwortungsbereich präsentiert.

Das begann mit den Eingangsbriefings der politischen und militärischen Verantwortlichen und setzte sich fort im Verlaufe des Besuches. Alle waren daran interessiert, Mängel im eigenen Bereich zu ignorieren und Erfolge stark überzubewerten. Kritische Gesprächspartner wurden meist aus den Programmen gestrichen.

Gab es einen politischen Druck auf die Einsatzkräfte, die Afghanistan-Mission positiver darzustellen, als sie vor Ort erlebt wurde?

Jürgen Heiducoff: Auch Generale der damaligen Schutztruppe ISAF stellten immer wieder laufende militärische Operationen gegen Aufständische als eigene Erfolge dar. Das passte nicht zu dem Bild, dass sich fast täglich wegen eigener Verluste die Flaggen im ISAF-Hauptquartier auf halbmast befanden.

Und wie sollte das zu den wiederholten Forderungen nach Erhöhung der Truppenstärke passen?

Die Dominanz des Militärischen bereits zu Beginn des Afghanistan-Engagements erwies sich als wenig zielführend. Man kann nicht mit Bomben, Hausdurchsuchungen, willkürlichen Festnahmen und Folter eine demokratische Zivilgesellschaft in einem völlig fremden Kulturkreis schaffen.

Der Versuch, die Probleme zivil-militärisch durch einen vernetzten Ansatz zu lösen, konnte sich nicht gegen die militärische Logik durchsetzen. Die nach alten Regeln einer Stammesgesellschaft funktionierende Gemeinschaft erwies sich als sehr resistent und stark.

Das Prinzip des Primates der Politik über das Militär in den meisten Staaten, die Truppenkontingente nach Afghanistan entsandten, konnte leider nur in Teilen funktionieren. In Deutschland ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee. Deren bewaffnete Missionen und die Entsendung in das Einsatzgebiet werden durch den Bundestag beschlossen. Auf die militärischen Operationen im Zielgebiet hatte die nationale Politik in den Entsenderstaaten aber wenig Einfluss.

Parallel zur multinationalen Operation ISAF lief unter dem Kommando eines US Befehlshabers die alles übergreifende multinationale Großoperation "Enduring freedom"/"Andauernde Freiheit" (OEF).

Einblick und Einfluss in deren Operationen blieb im Wesentlichen auf die politischen und militärischen Verantwortungsträger der USA beschränkt.

Inwiefern hat der Wandel vom unmittelbaren Einsatz zur Ausbildungsmission "Resolute Support" im Jahr 2015 die Lage verändert?

Jürgen Heiducoff: Nach dem Ende der ISAF-Mission wurde der Schwerpunkt auf die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte verlagert. Da die Beratung durch westliche Militärs auf der operativen und strategischen Ebene erfolgte, auch im Verteidigungs- und Innenministerium Afghanistans, wäre zu hinterfragen gewesen, ob diese Art der Einflussnahme durch Militärs korrekt war. Hier hätten nach dem Prinzip des Primates der Politik einzig Politikern die Federführung zugestanden.

Der Afghanistan-Einsatz ist beendet und gescheitert. Dennoch war er nicht umsonst. Wir sind an Erfahrungen reicher. Ich glaube fest daran, dass es möglich ist, mit einem neuen politisch dominierten Ansatz die Wiederholung der Fehler während der laufenden und künftigen Operationen zu verhindern. Nun ist es an der Zeit, die Chance für einen Weg zur Abkehr von der militärischen Logik zu nutzen.

Militär alleine ist nicht in der Lage, Krisen und Konflikte zu lösen. Es kann nur die Bedingungen schaffen, dass politische, finanzielle, wirtschaftliche, humanitäre und andere zivile Lösungen erfolgen können. Es ist die Stunde der Diplomatie und der Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe.

Dies ist nur multinational möglich. Multinational heißt aber auch, dass nicht eine Nation bestimmt, was die anderen beteiligten Nationen zu tun haben.

Die Verlierer eines solchen völlig neuen und mutigen politischen Ansatzes werden die Konzerne der Rüstungsindustrie, der Technologie und Logistik sein, deren Auftragsbücher nicht mehr so gefüllt sein werden. Die Gewinner werden wir alle, die Steuerzahler sein.

Vor einer Woche hat Bundespräsident Steinmeier General Jens Arlt für die Evakuierungsmission in Afghanistan das Bundesverdienstkreuz verliehen. Zu Recht?

Jürgen Heiducoff: Ich meine, dass Brigadegeneral Jens Arlt das Bundesverdienstkreuz zu Recht verliehen bekam. Er hat es stellvertretend für die Leistungen aller an diesem Evakuierungseinsatz beteiligten Kameradinnen und Kameraden entgegengenommen. Die Frauen und Männer, die unter extremen Bedingungen und in einer unübersichtlichen und chaotischen Lage für die Erfüllung des ihnen von der Politik gestellten Auftrages kämpften, haben unsere Hochachtung verdient.

Keiner konnte voraussehen, welche Gefahren für Leib und Leben des Evakuierungspersonals und der zu rettenden Menschen bestanden. Es hätten weitere Selbstmordanschläge islamistischer Extremisten oder versehentliche Drohnen- oder Luftangriffe westlicher Militärs geben können.

Steinmeier hat auch angemerkt, dass noch "schmerzhafte Fragen" unbeantwortet seien. Sehen Sie diese Fragen auch; welche sind es?

Jürgen Heiducoff: Der Bundespräsident hat die schmerzhaften Fragen, die ich teile, in seiner Rede selbst genannt:

Und diese Fragen richten sich an die politische Führung, an das Parlament und die Regierungen, die diesen Einsatz beschlossen haben: Warum ist es uns bei all den persönlichen Anstrengungen und all den eingesetzten Ressourcen nicht gelungen, in Afghanistan eine stabile, selbsttragende politische und gesellschaftliche Ordnung aufzubauen? Eine neue Ordnung, die die ganz unterschiedlichen Gruppen aus Afghanistan auf dem Bonner Petersberg vor zwanzig Jahren so dringend eingefordert hatten? Warum zerfielen die afghanische Staatsführung und die Streitkräfte, in die wir über so viele Jahre so viel investiert haben, in so kurzer Zeit? War der Abzug der internationalen Truppen, so wie er stattfand, die richtige Entscheidung? Hat es Alternativen gegeben, die den militärischen Evakuierungseinsatz, den wir heute würdigen, vermeiden geholfen hätten? Sind nun das Leid, unsere Mühen, alle Verwundungen an Körper und Seele, alle verlorenen Menschenleben der vergangenen zwanzig Jahre umsonst gewesen? Und vor allen Dingen: Was lernen wir aus dieser bitteren Erfahrung für unser Handeln an anderen Einsatzorten, in anderen Ländern dieser Welt, von denen Risiken für unsere eigene Sicherheit ausgehen?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Es sind vor allem Fragen an die Politik. Das heißt nicht, dass die Militärs keine Fehler gemacht haben. Ich habe allerdings bereits 2007 in meinem "Brandbrief aus Kabul" an den damaligen Außenminister Steinmeier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass westliche Militärs sich in Afghanistan von den politischen Vorgaben lösen und bewusst Teile der Zivilgesellschaft bekämpfen.

Ich sehe vor allem eine Kardinalfrage für die Zukunft: müssen wir uns in die Krisen und Konflikte in anderen Kulturkreisen mit militärischer Gewalt einmischen? Durchschauen wir die Konsequenzen unseres Engagements in Mali? Ist es richtig, die Europäische Union zu militarisieren und mit deren Hilfe in fernen Regionen und Meeren präsent zu sein?

Wie erklären Sie sich, dass die Bundesregierung – vor allem das Auswärtige Amt und das Bundesverteidigungsministerium – so spät gehandelt haben? War die Entwicklung etwa nicht absehbar?

Jürgen Heiducoff: Die Ursachen für das Dilemma in Afghanistan liegen bei den Politikern aller beteiligten Staaten.

Sie haben trotz der historischen Erfahrungen versucht, die afghanische Gesellschaft von außen nach unserem Vorbild zu verändern. Regierungen und Parlamente haben ihren Militärs strenge Aufträge erteilt und sie handeln lassen. Militärs, vor allem die der USA und Großbritanniens, haben versucht, die Aufträge auch mit unangemessener militärischer Gewalt zu erfüllen.

Diese Entwicklung war absehbar. Spätestens seit der Ausweitung des Mandates der ISAF auf das gesamte Territorium erhoben sich die Aufständischen gegen die nach ihren Worten "ungläubigen Invasoren". Es war absehbar, dass der Widerstand nicht mit militärischer Gewalt zu brechen sein wird. Dies habe ich von 2007 an immer wieder in verschiedenen Publikationen öffentlich geäußert.

Sie stehen selbst in Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitern in Afghanistan. Wie ist deren Situation?

Jürgen Heiducoff: Ich hatte alle die Jahre seit meiner Rückkehr aus Afghanistan im Jahre 2008 regelmäßig Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern sowohl zu afghanischen Freunden als auch zu Kollegen und Kameraden einiger Botschaften und Nichtregierungsorganisationen.

Den afghanischen Freunden, denen die Flucht in den Westen nicht gelang, geht es sehr schlecht. Sie stehen extrem unter physischem und psychischem Druck. Weil sie alle zu uns Ausländern Kontakt hatten, sind sie der Gefahr des Vorwurfes der Kollaboration ausgesetzt. Das kann ihnen das Leben kosten.

Seit der Eroberung der Macht durch die Taliban sind leider fast alle Kommunikationskanäle nach Afghanistan blockiert. Allerdings habe ich Verbindung über einen Messengerdienst zu zwei guten Freunden, ehemaligen Generalen der Afghanischen Nationalarmee (ANA) die mit ihren großen Familien sich in Kabul in Wohnungen verschanzt haben.

Beide haben viele Jahre mit deutschen Ämtern, Behörden und Bundeswehrdienststellen kooperiert. Sie haben Brigaden und Korps der (ANA) geführt und in hohen Stäben Verantwortung im Kampf gegen die Aufständischen getragen.

Sie und ihre Familien gehören verschiedenen ethnischen Gruppen an: Paschtunen und Hazara. Sie wurden von den Ereignissen überrascht und waren zunächst in verschiedenen Regionen des Landes, als ihre militärischen Verbände zerfielen. Bis es ihnen gelang nach Kabul zu ihren Familien zu kommen, waren die Evakuierungen vom Flugplatz Kabul abgeschlossen.

Nun erhalte ich permanent Hilfeersuchen mit dem Ziel der Ausstellung von Einreisegenehmigungen nach Deutschland. In mühsamer Kleinarbeit habe ich die Gesuche, Lebensläufe, Beurteilungen, Dienstzeugnisse und Passkopien der vielen Familienangehörigen empfangen und an deutsche Behörden, auch an das Auswärtige Amt weitergeleitet.

Nun warte ich auf eine Reaktion und bange täglich mit meinen Freunden, dass sie durchhalten können. Die Kinder der Kernfamilien sind zwischen 17 und einem halben Jahr alt.

Dieser Schwebezustand dauert nun schon drei Wochen an und zehrt auch an meinen Nerven. Was soll ich meinen Freunden mitteilen? Wird das Unternehmen an bürokratischen Hürden scheitern? Ich wünsche mir mehr Unterstützung seitens der Politiker, die uns alle in diese Lage gebracht haben.

Wie gehen Sie persönlich mit dieser Verantwortung um?

Jürgen Heiducoff: Ich fühle mich persönlich schuldig an der entstandenen Lage und schäme mich dafür. Es würde mir schwerfallen, meinen Freunden jetzt in die Augen zu schauen. Stets habe ich ihnen gegenüber den Eindruck erweckt, unser deutsch-afghanisches Experiment ist gut. Dann musste ich Afghanistan verlassen und wiege mich in Sicherheit in Deutschland, während sie in der Falle in Kabul ausharren.

In den USA haben zahlreiche Afghanistan-Veteranen einen "Verrat" an den Afghanen beklagt. Haben Sie denn noch Kontakt in die Bundeswehr, wissen Sie, wie das Geschehen dort diskutiert wird?

Jürgen Heiducoff: Meine Scham, nichts für meine Freunde tun zu können, führt auch zeitweilig dazu, dass ich mich wie ein "Verräter" fühle. Ich habe auch Kontakte in die Bundeswehr. Dort ist das Spektrum der Bewertungen und Diskussionen über das Dilemma in Afghanistan ebenso breit und differenziert wie in unserer Gesellschaft insgesamt. Natürlich bewegt es die Soldaten besonders, die im Einsatz waren. Sie suchen nach Argumenten, dass ihr Engagement doch nicht umsonst war.

Der Autor Jürgen Heiducoff ist ehemaliger Offizier der Bundeswehr und zuvor der Nationalen Volksarmee Er war fast drei Jahre in Afghanistan und vorher acht Monate als OSZE-Militärbeobachter im Tschetschenienkrieg beratend tätig. Bekannt wurde seine Kritik an der militärischen Logik des Afghanistan-Einsatzes im Jahr 2007 duch einen offenen Brief an den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier

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