Polizeigewalt nahm unter der Pandemie zu

Polizeigewalt in Chile. Bild: OMCT

UN-Experten und Menschenrechtler verweisen am Rande des 48. UN-Menschenrechtsrates erneut auf massive Probleme in Lockdown und Ausnahmezustand. Kritik auch an Deutschland

Vertreter der Vereinten Nationen und Menschenrechtsexperten haben im Rahmen der laufenden Sitzung des UN-Menschenrechtsrates (Human Rights Council, HRC) auf die Zunahme willkürlicher Polizeigewalt hingewiesen. In einer Videokonferenz am Rande der 48. Sitzung des Gremiums forderten sie nun staatliche Schutzprogramme.

Die willkürliche Polizeigewalt gegen Demonstrantinnen und Demonstranten sei oftmals nicht mehr von Folter zu trennen, hieß es von dieser Seite. Die Experten betonten damit Erkenntnisse eines ausführlicheren Berichtes zum Thema, der bereits im März dieses Jahres erschienen war.

"Die zunehmende Polizeigewalt war weltweit ein prägendes Merkmal der Covid-19-Pandemie, von Kolumbien bis zu den Philippinen, von Mexiko und Belarus bis Russland, Algerien oder Myanmar", hieß es nun in einer Folgeerklärung der Weltorganisation gegen Folter (Organisation Mondiale contre la Torture, OMCT), die diese Woche zur Videokonferenz geladen hatte.

Um Ausgangssperren durchzusetzen oder Proteste zu zerstreuen, hätten Polizei oder mitunter gar Armeeeinheiten mit physischer Gewalt oder Waffeneinsatz reagiert. Dabei sei in einigen Fällen die Schwelle zur Folter überschritten worden, kritisiert die OMCT. "Wir sprechen zwar von Polizeigewalt, aber wenn wir Bilder wie etwa von Ermordung des US-Amerikaners George Floyd sehen, dann verstehen wir: Das ist nichts anderes als Folter", führte der OMCT-Vorsitzende Gerald Staberock aus.

Die Analyse der Organisation, die eine beratende Rolle beim UN-Menschenrechtsrat innehat, zeige, dass die Corona-Pandemie tatsächlich nur einen Trend verschlimmert habe, der seit Jahren zu beobachten sei, so Nils Melzer, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Thema Folter.

Melzer nannte als Problem einen "autoritären Ansatz in der Polizeiarbeit". Hinzu kämen Defizite bei der Ausbildung, die Stigmatisierung sozialer Gruppen bis hin zu eklatantem Rassismus, der sich in der Ermordung von Floyd im Jahr 2020 gezeigt habe. Dieser Trend sei auch in gefestigten Demokratien zu beobachten.

Pandemie machte Polizei zu zentralem Akteur

Der dänische UN-Botschafter vor den Vereinten Nationen in Genf, Morten Jespersen, erklärte in der jüngsten Videokonferenz der OMCT das Problem in der Pandemie. "Die Covid-Restriktionen haben die Polizei plötzlich zu einem zentralen Akteur bei der Durchsetzung von Maßnahmen zum Schutz der Volksgesundheit gemacht", sagte der Diplomat. Dabei seien besorgniserregende Entwicklungen zu verzeichnen gewesen.

Im August hatten Vorwürfe von Polizeigewalt bei Berliner Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen Melzer auf den Plan gerufen. Der Schweizer Jurist kündigte damals an, die Bundesregierung um eine Stellungnahme zu bitten. Nach den Regeln der Vereinten Nationen hat die adressierte Regierung nach einer solchen Aufforderung 60 Tage zur Antwort Zeit.

Bei anderen strittigen Fragen, etwa der politischen Haft und Folter des australischen Journalisten und Gründers der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, haben involvierte Regierungen die Aufforderung um eine Stellungnahme aber ignoriert.

Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa sagte Melzer im August, ihn hätten "besorgniserregende" Videos erreicht. "Die Hinweise sind stark genug, dass möglicherweise Menschenrechtsverletzungen begangen wurden", zitierte ihn die dpa. Melzer sprach damals mit Augenzeugen und nannte nach erstem Augenschein etwa ein Dutzend Vorfälle.

Der UN-Sonderberichterstatter verwies damals auf ein Video, in dem ein Polizist bei der Demonstration in Berlin eine Frau am Hals packt und zu Boden stößt. "Die hätte sterben können", kommentierte er nach Angaben der dpa.

Obwohl von der Teilnehmerin einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen keine Gefahr ausgegangen sei, habe der Beamte eine Technik der Selbstverteidigung angewendet, "statt schlicht eine Ordnungswidrigkeit zu verhindern".

Auf anderen Filmaufnahmen sei ein Mann zu sehen, der derart geschlagen wurde, dass er blutete, obwohl er bereits in Handschellen am Boden lag. Gefilmt wurde auch eine Person, die von Polizeibeamten von hinten vom Fahrrad gerissen wird.

OMCT-Vorsitzender: Pandemie verschärft Gewaltproblem

Schon bei der Präsentation eines des Berichtes im März hatte OMCT-Vorsitzender Staberock Polizeigewalt als ein bekanntes Phänomen beschrieben: "Aber die Überwachung der pandemischen Notlage hat den Strafverfolgungsbehörden mehr Befugnisse verliehen, was wiederum zu einer zunehmenden Verletzung von Bürgerrechten geführt und den Mangel an Rechenschaftspflicht verschärft hat."

Als problematisch erachtet die Organisation auch die mangelnde Überwachung durch die Zivilgesellschaft, "da Covid-19-Beschränkungen Menschenrechtsgruppen oft daran hindern, vor Ort tätig zu sein". Neben den unmittelbaren Problemen auf Demonstrationen gegen die Maßnahmen seien die Opfer oft marginalisierte Gruppen wie ethnische Minderheiten, Migranten und die ärmsten Mitglieder der Gesellschaft.

In vielen Fällen lassen sich beide Phänomene nicht voneinander trennen. In Entwicklungs- und Schwellenstaaten etwa trieben die Corona-Maßnahmen Mitglieder der ärmeren Bevölkerungsschichten auf die Straße, weil sie kein Einkommen mehr hatten und in massive Existenznot gerieten.

Zwischen dem 16. März 2020 und dem 24. Januar 2021 hat die britische Menschenrechtsorganisation Omega Research Foundation mehr als 160 Fälle von mutmaßlich übermäßiger Gewaltanwendung im Kontext der Durchsetzung von Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus erfasst. Schusswaffen, Schlagwaffen und chemische Reizstoffe wurden weltweit eingesetzt.

Diese Erkenntnisse decken sich mit der Einschätzung von UN-Sonderberichterstatter Melzer im Konztext des Ausnahmezustandes. Er stellte fest, dass die Sicherheitsmaßnahmen "die Anfälligkeit bestimmter Gruppen und Einzelpersonen für Polizeigewalt erhöhen, darunter arme Menschen, die gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen, obdachlose Männer, Frauen und Kinder, Frauen und Kinder in Situationen häuslicher Gewalt, Migranten und Flüchtlinge, Slumbewohner und all diejenigen, die von der Hand in den Mund leben und für die im informellen Sektor tätig sind".