Nato: Der Weltfrieden ist ein nobles Ziel

Innenpolitik sticht Außenpolitik: Replik auf Reiner Braun und andere

Am 26. September 2021 wurde der 20. Deutsche Bundestag gewählt. Darin werden acht Parteien vertreten sein, wenn man CDU/CSU getrennt zählt und den einzelnen Sitz des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) berücksichtigt. Die Linke scheiterte eigentlich an der Fünfprozenthürde, rettete sich aber gerade so über die Ausnahmeregelung mit den drei Direktmandaten.

Als mögliche Koalitionen werden jetzt die "Ampel" (SPD, Grüne, FDP) und "Jamaika" (CDU/CSU, Grüne, FDP) genannt. Letztere belastet aber der große Wahlverlierer Armin Laschet (CDU), unter dessen Führung die Unionsparteien ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erhalten haben.

Der Linken, nach CDU/CSU mit -4,3 Prozent die zweitgrößte Wahlverliererin, kommt beim Koalitionspoker keine Rolle zu. Denn SPD, Grüne und Linke kämen gemeinsam nur auf 363 Sitze und würden die Mehrheit (368) knapp verfehlen. Mit der AfD will keiner reden. Eine (nun nicht mehr so große) Koalition von SPD und CDU/CSU, mit umgedrehtem Führungsanspruch, sollte man aber auch nicht vorzeitig abhaken.

Für Olaf Scholz (SPD), mit +5,2 Prozent zweiter Wahlgewinner hinter den Grünen, ist die Schwäche der Linken ein strategischer Nachteil: Jetzt scheint es so, als könnten sich Grüne und FDP ihren größeren Wunschpartner suchen. Andernfalls hätten die SPD-Politiker die FDP (oder auch CDU/CSU) mit der Alternative rot-grün-rot unter Druck setzen können.

Da Christian Lindner (FDP) Steuererhöhungen kategorisch ausschließt, SPD und Grüne aber die (sehr) Wohlhabenden stärker nach der Coronapandemie zur Kasse bitten wollen, bleibt der Ausgang offen. Wer rückt am weitesten von seinen Idealen ab, um die begehrten Regierungsposten zu besetzen?

Die Friedensfrage und die Linke

Für Friedensaktivist Reiner Braun sowie elf andere Autorinnen und Autoren war der Verlust der Linken absehbar (siehe: Das Debakel für die Linke war vorauszusehen). Sie sehen in "der Friedensfrage und der Position zur Nato" den "Schlüssel zu einer sozial-ökologischen Konversion".

Mit Mitteln aus dem Verteidigungshaushalt könne man große soziale und ökologische Probleme lösen. "Als Regierungspartei im Wartestand, bereit, Grundsatzpositionen, vorwiegend in der Nato-Frage, aufzugeben, hat sie [Die Linke, d. A.] sich selbst überflüssig gemacht."

Das liefert zwei überprüfbare Thesen: Erstens, hat die Linke wirklich ihre Position zur Nato aufgegeben und darum so viele Wählerstimmen verloren? Und zweitens, ließen sich die sozial-ökologischen Probleme lösen, wenn man die Militärausgaben senkt?

Zum ersten Punkt heißt es im Wahlprogramm der Linken:

Wir fordern die Auflösung der Nato und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat. Wir fordern, Verhandlungen über einen deutsch-russischen Vertrag aufzunehmen, um Versöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Russland zu erreichen und zu verstetigen.

Die Linke hält also offiziell an dem Ziel fest, auch wenn man vielleicht, wie es alle Parteien machen, mit Blick auf eine Regierungsbeteiligung Kompromissbereitschaft ausgestrahlt haben mag. Zudem ist es ja nicht so, dass inzwischen eine andere Partei als größerer Nato-Gegner aufgetreten wäre und damit der Linken Wähler abgenommen haben könnte.

Der ARD-Deutschlandtrend ergab Ende 2019, zum 70. Geburtstag der Nato, dass nur 13 Prozent der Deutschen das Bündnis für überflüssig halten. 13 Prozent auf Bundesebene wären für die Linke aus heutiger Sicht natürlich ein Traumergebnis.

Selbst wenn das Afghanistandebakel die Ablehnung gegen die Nato oder zumindest ihre Kriegseinsätze vergrößert haben mag, gilt nach wie vor: Diejenigen, denen das ein Herzensanliegen ist, müssten vor allen anderen Parteien die Linke wählen.

Auch die AfD, die die Linke inzwischen als "Ostpartei" abgelöst hat, wäre laut Wahlprogramm hier keine Alternative:

Die Mitgliedschaft in der Nato und eine aktive Rolle Deutschlands in der OSZE sind bis auf Weiteres zentrale Elemente unserer Sicherheitsstrategie.

Das lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass der Friedenspolitik bei den Bundestagswahlen die große Bedeutung zukam, die ihr Reiner Braun und die anderen beimessen. Und selbst wenn, dann vielleicht sogar mit umgekehrtem Vorzeichen: dass eben nach wie vor die große Mehrheit an einem transatlantischen Verteidigungsbündnis festhält.

Afghanistandebakel im Wahlkampf

Auch wenn es zynisch klingen mag, doch die militärische wie humanitäre Katastrophe in Afghanistan scheint die deutschen Wähler kaum interessiert zu haben. Denn die drei Wahlgewinner Grüne, SPD und FDP haben diesen Kriegseinsatz ja als Regierungsparteien mitgetragen, beziehungsweise sogar erst eingeleitet (rot-grün unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer, 2001).

In Deutschland gab es, anders als hier in den Niederlanden, deswegen nicht einmal Rücktritte. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) konnten die Verantwortung auf den Rückzug der US-amerikanischen Truppen abwiegeln. Davon sei man schlicht überrumpelt worden.

Und man kann natürlich auch von deutschen Beamten nicht erwarten, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich die Taliban nicht an bürokratische Gepflogenheiten halten; dass sie beispielsweise einfach so Kunduz einnehmen, ohne vorher Annexionsformulare in dreifertiger Ausführung bei der Deutschen Botschaft einzureichen. Das übersteigt schlicht deren Vorstellungsvermögen.

Schon die fragwürdige Beteiligung Deutschlands an den Jugoslawienkriegen (siehe die ARD-Dokumentation "Es begann mit einer Lüge" von 2000) haben die deutschen Wähler ihrer Regierung verziehen. Dabei standen die Grünen früher, bevor es die Linke gab, für den Frieden und strikt gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr.

In ähnlicher Weise hat man auch den Afghanistaneinsatz dem Volk erst als humanitären Einsatz dargestellt. 2009 kam dann Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) den Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten vor Ort entgegen und sprach von "kriegsähnlichen Zuständen", wo sein Vorgänger Franz Josef Jung (CDU) nur das Wort "Kampfeinsatz" in den Mund nahm.

Wohin mit dem Geld?

So bleibt noch die zweite These, ob man mit dem Geld aus dem Verteidigungshaushalt die großen sozialen und ökologischen Probleme lösen könnte. Dafür ein paar Zahlen: 2021 lag dieser Haushaltsposten bei 46,9 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Zur Bekämpfung der Coronapandemie hat die Bundesrepublik allein im Jahr 2021 rund zehnmal so viel an neuen Schulden aufgenommen!

Mit anderen Worten: Geld gäbe es ja genug. Die Frage ist vielmehr, wohin es der politische Willen trägt. (Und nebenbei: Die Zinsen für deutsche Staatsanleihen waren so niedrig, zum Teil negativ, dass die Bundesrepublik im Prinzip gratis Schulden machen konnte. Berücksichtigt man noch die Inflationsrate, bekommt sie fürs Schuldenmachen sogar noch Geld geschenkt!)

Und mit 47 Milliarden Euro könnte man durchaus soziale Probleme verringern, zum Beispiel - doch das beträfe vor allem die Länderebene - Schulen besser ausstatten. Es ist aber nicht so, dass man das nicht tut, weil Verteidigung so teuer wäre. Man setzt schlicht die Prioritäten anders.

Das Argument "Sozialausgaben" statt "Verteidigungsausgaben" mag sich nett anhören. Praktisch relevant ist es aber nicht. Die grundlegende Frage, wofür man die Bundeswehr braucht, ist eine politische und gesellschaftliche.

Wofür die Bundeswehr?

Nun ist es im Jahr 2021 zum Glück nicht so, dass Deutschland von militärischen Feinden unmittelbar bedroht wäre. Die USA geben aber abwechselnd den Krieg gegen den Terror oder, jetzt wieder, den (Handels-) Krieg gegen China vor.

Die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass sich deutsche Regierungsmitglieder durchaus vom amerikanischen Anspruch emanzipieren können, auch innerhalb der Nato-Strukturen: man denke an Schröders "Nein" zum Irakkrieg anno 2003 oder Guido Westerwelles (FDP) Enthaltung im UN-Sicherheitsrat gegenüber dem Syrienkrieg im Jahr 2011.

Das Grundgesetz definiert eindeutig, dass die Aufgabe der Bundeswehr die Verteidigung ist (Artikel 87a). Alle Einsätze müssen im Einklang mit dem Grundgesetz sein. An dessen Anfang steht nicht nur die unantastbare Menschenwürde (Artikel 1, Absatz 1), sondern auch (Absatz 2):

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Der Schutz von Menschenwürde, Menschenrechten, Frieden und Gerechtigkeit in der Welt ist damit schon Aufgabe der Bundeswehr. Was das im 21. Jahrhundert bedeutet und welche realpolitischen Strukturen dafür am besten geeignet sind, ist eine Frage für unsere Zeit.

Die Linke würde hier weniger Angriffsfläche bieten, als Schmuddelkinder oder Bedrohung von links dargestellt zu werden, wenn sie statt der Auflösung der Nato eine konstruktive Alternative verträte. Das könnte beispielsweise die Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsarmee sein.

Lehren aus Afghanistan

Hierfür werden auch die Lehren entscheidend sein, die man aus dem Afghanistankrieg zieht. Stürzt man sich wieder in den nächsten Auslandseinsatz, ohne klare Strategie und Kriterien? Hält man an dem politischen Führungsstil fest, der im Wesentlichen nach netten Sprachregelungen sucht, um das Wählergemüt zu beschwichtigen - bis sich die harte Realität nicht länger verbergen lässt?

Die letzten 20 Jahre(!) haben gezeigt, dass selbst die technologisch weit überlegene US-Armee mit ihren Lenkwaffen und tödlichen Drohnen ein geografisch schwer zugängliches und islamisches Land wie Afghanistan nicht dauerhaft befrieden kann. Worauf ist man jetzt im deutschen Verteidigungsministerium scharf? Bewaffnete Drohnen!

Der Ausgang des Afghanistankriegs zeigt aller Welt, was dahintersteckt, wenn die westliche Wertegemeinschaft ihre Gesellschaftsform verbreiten will: Vordergründig spricht man von Demokratie und Frauenrechten, während man im Verborgenen korrupte Regimes stützt, Wahlfälschungen zumindest toleriert, und mit potenziellen Kriegsverbrechern, Warlords und Drogenbaronen zusammenarbeitet (siehe hierzu beispielsweise die Anstalt vom 5. Oktober 2021).

Der Ausgang zeigt auch potenziellen zukünftigen Partnern, dass Zusicherungen von deutschen Repräsentanten nur dann etwas wert sind, wenn man die deutschen Gesetze versteht und sie gegebenenfalls auch vor deutschen Gerichten einklagen kann. Das kann ich auch aus eigenen Erfahrungen als Student mit dem BAFöG-Amt, im öffentlichen Dienst und als Antragsteller bei der Bundesagentur für Arbeit bestätigen. (Zu den bürokratischen Zumutungen für afghanische Ortskräfte, siehe dieses Interview mit Oberleutnant Marcus Grotian auf Jung & Naiv.)

Angela Merkel kann man hoch anrechnen, dass sie auf Auslandsreisen nach China oder Russland immer wieder die Menschenrechtslage ansprach. Doch währenddessen wurden Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen von den Bündnispartnern übersehen (siehe zum Beispiel die ARD-Dokumentation "Slahi und seine Folterer" vom 14. September 2021). Stattdessen sitzt nun ein Journalist, der die Verbrechen aufdeckte, unter folterähnlichen Bedingungen in einem britischen Gefängnis (siehe: Julian Assange: Wie die USA ihre Kriegsverbrecher schützen).

Man könnte meinen, die Nato und die deutsche Verteidigungspolitik sind schon jetzt auf bestem Wege, sich selbst zu überwinden. Es sollte aber erst eine bessere Alternative geben, bevor man die alten Strukturen auflöst.

Zusammenfassung

Kein Zweifel: Der Weltfrieden ist ein nobles Ziel. Auch das Grundgesetz ist hier deutlich. Frieden scheint aber bis auf Weiteres kein wahlentscheidendes Thema in Deutschland zu sein, ob man das als Friedensaktivist nun gut findet oder nicht.

Die Sozial- und Klimapolitik hängt auch nicht entscheidend davon ab, wie man den Verteidigungshaushalt gestaltet. Im Übrigen hat die Ausstattung der Bundeswehr ja schon mit den heutigen finanziellen Mitteln ihre Mängel.

Das schlechte Abschneiden der Linken bei den Wahlen des 20. Bundestags lässt sich hiermit wohl nicht erklären. Olaf Scholz hat sich stark mit dem Thema Mindestlohn profiliert. SPD und Grüne geben sich nun zumindest den Anschein, größere Vermögen bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen stärker miteinzubeziehen. Man wird abwarten müssen, was im Koalitionsvertrag davon übrig bleibt - wenn es überhaupt zur "Ampel" kommt.

Die Politikerinnen und Politiker der Linken kamen noch nie in die Verlegenheit, sich als Regierungspartei auf Bundesebene mit dem Thema Afghanistan auseinandersetzen zu müssen. Mit ihrer konsequenten Ablehnung des Auslandseinsatzes haben sie nun zwar Recht behalten. Wahlen gewinnt man so aber nicht.