Krieg im Nordirak: Schwere Giftgas-Vorwürfe gegen Türkei

Grenzregion Hakkari, wo die türkische Militäroffensive gegen kurdische Milizen im Nordirak im April neu begann. Foto: Mehmet Şan / CC BY-SA 3.0

Ihre Militärs sollen beim Kampf gegen Guerillakämpfer neuartige Kampfstoffe einsetzen

Seit Monaten führt die Türkei einen völkerrechtswidrigen Krieg im Nordirak und begeht, wie ihr vorgeworfen wird, offenbar schwere Kriegsverbrechen. Laut Zeugenaussagen soll sie seit einiger Zeit auch Giftgas einsetzen. Das wäre ein Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention (CWÜ) zum Verbot von Chemiewaffen, das die Türkei selbst unterzeichnet hat. Von den westlichen Medien und auch von den westlichen Regierungen gibt es nur beredtes Schweigen.

Würde Russland im Inland oder in einem seiner Nachbarländer Giftgas gegen die Opposition einsetzen, wäre das Medieninteresse und der Protest immens. Die westlichen Regierungen würden baldigst mit Sanktionen reagieren. Dem Nato-Mitglied Türkei scheint demgegenüber jedes Mittel gegen die Opposition erlaubt zu sein - sei es gegen die demokratische Partei HDP im Inland oder die Guerillaeinheiten der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Irak. Diese Doppelmoral wirft ein bezeichnendes und beschämendes Bild auf den Zustand der Nato und der EU.

Die höchste belgische Gerichtsinstanz hat im Jahr 2020 mehrere Gerichtsurteile bestätigt, wonach die PKK "keine terroristische Organisation", sondern eine Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt sei.

Verpflichtung zur Einhaltung von Abkommen

In der Bewertung der militärischen Auseinandersetzungen ist es unerheblich, ob man in Europa die jeweiligen politischen Ziele der beiden Kriegsparteien teilt. Beide Kriegsparteien müssen sich an die Konventionen z. B. im Umgang mit Kriegsgefangenen, dem Schutz der Zivilbevölkerung oder Kulturgütern halten. Das gilt für alle Länder, die die entsprechenden Abkommen und Konventionen unterzeichnet haben - auch für die Türkei.

Doch was interessiert den türkischen Präsidenten, was in der Vergangenheit unterzeichnet wurde? Erdogan verstößt seit Jahren gegen die eigene Verfassung und gegen internationaIe Abkommen: Der ehemalige HDP-Vorsitzende Demirtas sitzt immer noch im Gefängnis, obwohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof seine Freilassung angeordnet hat.

In Nordsyrien wurde die Zivilbevölkerung aus den türkisch besetzten Gebieten Afrin, Serekaniye und Gire Spi systematisch vertrieben. Das ist ein vom UN-Sicherheitsrat verurteilter Verstoß gegen die UN-Charta. Olivenplantagen wurden entweder zerstört oder die Ernte in die Türkei verbracht. Kirchen, ezidische Heiligtümer, Friedhöfe, archäologische Stätten wurden geplündert und zerstört.

Ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konventionen besteht darin, dass Wasser des Euphrat in der Türkei gestaut und die vertraglich geregelte Wassermenge der Region vorenthalten wird. Missernten und Wasserknappheit sind die gewollte Folge dieser Wasserpolitik.

Im Nordirak rodet die Türkei die Wälder und transportiert das Holz zur Verarbeitung in die Türkei. In unzugänglichen Gebieten werden durch Brandsätze aus Helikoptern die Wälder in der Region abgebrannt. Über die ökologischen Folgen für die Region redet niemand, aber die Revolverblätter in der Türkei überbieten sich mit Erfolgsmeldungen über den Kampf gegen die PKK durch diesen Raubbau an der Natur.

Giftgas gegen die Guerilla

Der Krieg der Türkei im Nordirak richtet sich nach Aussagen der türkischen Regierung gegen die Guerillaeinheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In der Realität trifft es aber auch immer wieder die Zivilbevölkerung in den Dörfern der Grenzregion in Metina, Zap und Avasin.

Seit den 1980-er Jahren ist die PKK im Nordirak in den Bergen der Grenzregion zur Türkei ansässig. Sie nennt diese Gebiete "Medya-Verteidigungsgebiete". Die Region Avasin mit dem Bergmassiv Werxele ist quasi der Eingang in das Rückzugsgebiet der PKK und wird von der Türkei mit Kampfflugzeugen, Kampfhubschraubern und bewaffneten Drohnen heftig attackiert, denn mit dem Absetzen von Bodentruppen scheiterte das türkische Militär kläglich.

Sie traten angesichts des Widerstands der PKK die Flucht an und hinterließen große Mengen an Sprengstoff und anderes militärisches Material. Darunter befand sich auch ein Sprengstoffdetektor aus deutscher Produktion einer im schwäbischen Achalm ansässigen Firma - ein erneuter Hinweis darauf, dass die von Deutschland an die Türkei gelieferten Waffen und anderes militärisches Equipment auch völkerrechtswidrig zum Einsatz kommen.

Nun versucht die Türkei, wie ihr vorgeworfen wird, mit dem Einsatz von völkerrechtlich geächtetem Giftgas das Gebiet zu erobern. Mehrere Guerillakämpfer seien dadurch getötet worden. Bereits 300 Mal soll nach Angaben der PKK in den letzten Wochen Giftgas eingesetzt worden sein.

Um welche Kampfstoffe es sich im Einzelnen handelt, ist nicht bekannt. Erst letzte Woche wurden fünf Guerillakämpfer durch ein neues, scheinbar noch aggressiveres Giftgas getötet. Journalisten vor Ort verfolgen die Kampfhandlungen und berichten ebenfalls über den Einsatz verbotener Chemiewaffen durch die türkische Armee. Ein Journalist vor Ort beschreibt dies bei ANF wie folgt:

Die Explosionswirkung dieser Waffe wurde uns wie eine Art Erdbeben beschrieben. Sie ist enorm stark. Zudem wurde uns berichtet, dass sich nach der Explosion ein extrem unausstehlicher Geruch verbreitet, der anders ist als das Gas, das bisher eingesetzt wurde. Das bisher verwendete Gas war wohl grau und roch wie verbrannter Zucker. Doch die seit kurzem eingesetzte neue Waffe ist von der Explosionswirkung her viel stärker und verbreitet zudem einen extrem ekligen Geruch. Uns wurde von Mitgliedern der Guerilla auch berichtet, dass das neue Gas bei Hautkontakt die Haut rot werden lässt und den menschlichen Körper langsam zersetzt. Also dieses Gas zersetzt das Fleisch des menschlichen Körpers.

Kawa Tolhildan, ANF

Eine Filmaufnahme von Medyanews zeigt ein grünes Gas in den Tunneln. In dem Filmbeitrag wird von 548 Zivilisten aus Kani Masi berichtet, die im letzten Monat mit Symptomen wie brennende Augen, verschwommenes Sehen, vorübergehende Blindheit, akute Kopfschmerzen, Nasenbluten, Kurzatmigkeit und Hautausschläge ins Krankenhaus eingeliefert wurden, die auf den Kontakt mit Giftgas hinweisen.

Aussagen des Christian Peacemaker Teams-Iraq

Die im Irak ansässige Nichtregierungsorganisation Christian Peacemaker Teams-Iraq (CPT-IK) bestätigte mit eigenen Recherchen in den von den türkischen Angriffen direkt betroffenen Gebieten mindestens einen dieser Fälle. Am 4. September wurde beispielsweise das Dorf Hiror Berichten zufolge mit Chemiewaffen angegriffen, wobei Mitglieder einer örtlichen Familie verletzt wurden.

Die Christian Peacemaker Teams-Iraq gehen davon aus, dass die Verletzungen der Familienmitglieder durch chemische Waffen verursacht wurden. Schon im Juni veröffentlichte CPT-IK ein Dossier über die zivilen Auswirkungen der türkischen Angriffe.

Nach ihren Aussagen wurden allein im Juni 2021 mehr als 1500 Menschen aus 22 Dörfern im Gouvernement Dohuk vertrieben, Tausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche und 1300 Bienenstöcke verbrannt.