Das Ende der Kuschelpolitik

Die Beziehungen bleiben kompliziert. Symbolbild: Greg Montani /Pixabay License

Was das Land braucht. Medienblog "Macht und Meinung"

Bereitwillig geben gerade Politikexperten, Journalisten und Professoren diverser Fakultäten Auskunft über den Verlauf von Verhandlungen, an denen sie nicht beteiligt sind, und über die Bedeutung von Wahlergebnissen, die in der Regel nicht ihren persönlichen Wünschen entsprechen, und tun ihre Meinung kund zu Klimakrise und Parteiprogrammen, zu richtigen Personalien und dem, "was jetzt notwendig ist".

Dabei kommt es in erstaunlichem Tempo zu allerlei Mythenbildungen.

Olaf Scholz kalkulierte richtig

Beispielhaft hierfür ist die Analyse der Bundestagswahl in der neuesten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik: "Blätter"-Redakteur Albrecht von Lucke schreibt wie immer lesenswert und anregend über "Schwarz-Grünes Versagen" und behauptet, die Wahl sei zwar von Union und Grünen verloren, von der SPD aber nicht gewonnen worden.

Die FDP, immerhin die von Erstwählern präferierte Partei kommt in Luckes Analyse gar nicht erst vor, genau so wenig wie das Stichwort Corona und die Auswirkungen der Pandemie auf die Wahlen. Dafür die erste Legende: "Die Zeichen der Zeit standen auf Schwarz-Grün. Nur durch gewaltige Fehler von Schwarzen und Grünen konnte die Rechnung von Scholz am Ende aufgehen."

Eigentlich widerlegt von Lucke selbst schon in den darauf folgenden Sätzen seine eigene These: "Er und seine Strategen hatten von Anfang an darauf spekuliert, dass das durch den Abgang Angela Merkels erzeugte Vakuum am stärksten durch den Finanzminister gefüllt werden würde."

Denn es war einfach das richtige Kalkül von Scholz und seinem Umfeld, darauf zu setzen, dass mit dem Abgang von Merkel die Union massiv an Attraktivität bei den Wählern einbüßt. Olaf Scholz bot ohne Frage in einer Wahlsituation, in der die Kandidatenpräferenz eindeutig wichtiger war als die Parteipräferenz, persönlich ein Beispiel für "ruhige Hand", Erfahrung, und "Sie kennen mich".

Zugleich aber versprach Scholz auch eine Mischung aus Erneuerung und Kontinuität, wo Armin Laschet Kontinuität ohne Erneuerung, Baerbock Erneuerung ohne Kontinuität befürchten ließen und beide mit Unsicherheit und möglicher persönlicher Überforderung.

Die breite Mehrheit ist eben nicht bereit für die Grünen

Auch eine zweite Behauptung entpuppt sich schnell als Legendenbildung: Danach waren die Fehler der Grünen eigentlich keine, sondern nur nebensächliche Fauxpas der Kandidatin: Ein aufgehübschter Lebenslauf und so weiter. Dazu sei dann die "Kandidatinnenfixierung" der blöden Medien gekommen, die von den Inhalten abgelenkt habe.

Das ist ein viel zu einfaches Bild. Tatsächlich findet sich die grüne Lebenslüge bereits auf dem schwarz-grünen Farbdesign der Plakate und im Motto "Bereit, weil ihr es seid!" Gerade die Anhänger der Grünen müssten der Tatsache ins Auge sehen, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung für eine wirklich grüne Umwelt-Politik eben nicht bereit war und ist. Und dass die schwarz-grüne Option, gerade da, wo sie realistisch wird, das grüne Lager spaltet.

Die grünen Werbebotschaften waren eher eine Drohung für die Leute.

Milieu-Partei der Besserverdienenden, Bessergebildeten, Besserwisser

Nicht minder schwer wiegt der nach wie vor allgemeine Eindruck von den Grünen als einer "Verbotspartei" - ob nun berechtigt oder nicht. Er verblasst nicht, sondern wird mindestens durch Fehler und Ungeschicklichkeiten immer wieder neu gestützt, wobei derer so viele sind, dass man hier kaum noch an Zufälle und Ungeschick glauben kann, sondern Systematisches vermutet.

Die Grünen wirken bei vielen Themen und Anlässen nach wie vor wie eine Partei, die den Bürgern nicht vertraut, sondern sie gängeln und ihr Leben regulieren will. Nach wie vor sind die Grünen auch zu sehr eine Milieu-Partei der Besserverdienenden, Bessergebildeten, der zum Moralisieren neigenden Besserwisser aus den Städten, die ihre "first world problems" zum Zentrum der Politik machen.

Hinzu kam dann 2021, dass die Kandidatin die falsche Kandidatin war, nicht minder als Armin Laschet der falsche Kandidat für die Union. Wenn es bei Laschet richtig ist, dass die Mehrheit der Wähler ihn nicht wollte, dann ist das bei Baerbock im Vergleich zu Habeck erst recht richtig.

Die dritte Legende ist die Behauptung, es gäbe zwischen den zukünftigen Partnern der Ampelkoalition "mindestens so große Unverträglichkeiten wie zwischen Grünen, SPD und Linkspartei, in diesem Fall allerdings weniger in der Außen- als wie in der Innenpolitik. Wie es hier zu einem Kompromiss zwischen der rot-grünen Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro, höheren Steuern sowie neuen Schulden und der Ablehnung all dessen durch die FDP kommen soll, ist momentan kaum vorstellbar".

Unverständlicherweise findet Albrecht von Lucke eine Koalition zwischen SPD, Grünen und Die Linke "klassischerweise" sehr naheliegend. Warum eigentlich?

Und warum soll eine Ampel, die alte angebliche "Lagergrenzen" überbrückt, so unmöglich und chancenlos sein, wo doch der Autor selbst klarmacht, dass es eine Regierung schwer hat, die die "starken Bataillone" der konservativ-wirtschaftsliberalen Formation in Wirtschaft und Medien gegen sich hat, und die "Notwendigkeit eines völlig neuartigen Regierens" einfordert?

Heimliche Sehnsucht nach Geborgenheit, die Merkel 16 Jahre an der Macht gehalten hat

Aus Angst und Skepsis vor der Ampel sprechen die gleiche Unsicherheit und heimliche Sehnsucht nach Geborgenheit, die Merkel 16 Jahre an der Macht gehalten hat.

Verbunden ist dies allerdings mit einer überraschend kulturpessimistischen Zeitdiagnose:

Was heute erforderlich ist, ist ein radikaler Wandel in sozial-ökologischer Hinsicht. Anderenfalls werden die klimapolitisch entscheidenden Jahre bis zur Mitte dieses Jahrzehnt ereignislos verrinnen. Was dieses Land daher braucht, ist eine starke, konsistent agierende Koalition, die gegenüber einer immer renitenter werdenden "Zivilgesellschaft" überhaupt durchsetzungsfähig ist.

Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke fürchtet, dass sich Grüne und FDP mit ihren konträren Positionen neutralisieren. Was damit drohe, so raunt es apokalyptisch, sei "inhaltliche Unregierbarkeit - und das angesichts maximaler Probleme und kommender Krisen und Katastrophenjahre. So drohen am Ende wir alle zu Verlierern dieser Wahl zu werden".

Das Ende der Kuschelpolitik

Das muss man noch mal genau und Wort für Wort lesen: "maximale Probleme", "kommende Krisen und Katastrophenjahre". Und das nach zwei Jahrzehnten mit 9/11, Finanz- und Staatsschuldenkrise, eskalierender Flüchtlingssituation und Donald Trump. Offenbar geht es nicht unter dem drohenden Weltuntergang. Damit schießt der Autor über das Ziel hinaus. Seine ganze Rhetorik ist zwei Stufen zu dramatisierend und intensiv.

Es gab einmal eine Zeit, da erkannten Linke den "Kulturpessimismus als politische Gefahr" (Fritz Stern). Stattdessen liebäugelt von Lucke mit einer rot-grünen Minderheitsregierung durch Olaf Scholz - was für ein Unsinn! Wäre das stabiler, wenn das Schiff angeblich zu sinken droht?

Man sollte sich die Politik vielleicht nicht zu kuschelig wünschen. Im Gegenteil ist das Ende der Merkel-Ära auch genau das Ende der Kuschelpolitik. Wie die drei Ampelparteien werden wir alle wieder lernen mit Differenzen zu leben, sie auszuhalten und trotzdem Politik zu machen.