Frankreich: Atomenergie, toujours?

Symbolbild: Frédéric Paulussen/unsplash

Zukunftsprognosen für das postfossile Zeitalter von der EDF-Tochter RTE: "Ohne Atomkraftwerke wird es teuer"

Das Réseau de transport d'électricité (RTE), der Betreiber der Hochspannungsnetze in Frankreich, hat heute seinen von der Regierung 2019 in Auftrag gegebenen und lang erwarteten Bericht über die künftige Stromversorgung des Landes veröffentlicht: "Futurs énergétiques 2050". Er ist mehr als 600 Seiten dick, allein die Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse benötigt 64 Seiten. Es ist ein Oeuvre für Spezialisten.

Die grundlegenden Vorgaben für die Prognose sind allerdings schnell genannt: Es geht darum, die CO2-Emissionen so weit herunterzufahren, dass 2050 die sogenannte "Kohlenstoffneutralität" erreicht wird und bis 2030 laut EU-Vorgaben die Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent gesenkt werden. Dennoch soll die Stromversorgung bei erwartbarem steigendem Strom-Bedarf sichergestellt werden: "Keine Blackouts".

Alle sechs Szenarios, die RTE als mögliche Zukunft der Energieversorgung skizziert hat, sind "blackout free" zertifiziert, wie es in einem Medienbericht heißt.

Die sechs Szenarien unterschieden sich nach ihrem Energiemix - von 100 Prozent Erneuerbaren (36 Prozent Photovoltaik, 31 Prozent Windkraft onshore, 21 Prozent Windkraft offshore und 12 Prozent andere) bis zu einem Fifty-Fifty-Energiemix aus Atomkraft (23 Prozent alte Reaktoren, 27 Prozent neue, darunter auch Minireaktoren), Photovoltaik (13 Prozent), Windkraft (25 Prozent) und andere (12 Prozent).

Die Aussage des RTE-Chefs Xavier Piechaczyk, zitiert von Le Figaro, zeigt eine grundlegende Pro-AKW-Richtung an.

Bis 2030 müssen technisch und wirtschaftlich ausgereifte erneuerbare Energien entwickelt und die bestehende Kernkraft ausgebaut werden.

Xavier Piechaczyk

Der gegenwärtige 67,1-Prozent-Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung muss bis 2035 auf 50 Prozent gesenkt werden. Das ist das von der Regierung vorgegebene Ziel für den Anteil der Atomkraft, für die sich RTE in seiner Prognose besonders einsetzt.

So rät man dringend von einer "vorzeitigen Abschaltung der Atomreaktoren" ab. Und nicht nur das.

Bau neuer Reaktoren: "wirtschaftlich sinnvoll"

Unter den sechs Zukunftsszenarien, die RTE vorlegt, wird die Kernenergie als besonders kostengünstig herausgestellt. Ein Strommix aus 100 Prozent erneuerbaren Energien würde laut ihren Berechnungen zwischen 77 und 80 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Für den Mix, der am stärksten auf Nuklearenergie setzt, rechnet man dagegen mit Kosten von 59 Milliarden Euro.

Neue Aufträge für die Nuklearanlagenbauer werden von der RTE deutlich favorisiert. Selbst wenn man nur das "Mindestprogramm" von sechs neuen EPR-Reaktoren, das Präsident Macron vorgeschlagen hat, umsetze, würde dies bedeuten, dass ein hoher Anteil an erneuerbarer Energien eingesetzt werden müsse, die teurer sind, zitiert die bürgerlich-konservative Zeitung Le Figaro aus dem Papier. Der Bau neuer Kernreaktoren sei "wirtschaftlich sinnvoll".

Erfahrungen, die dem widersprechen

An dieser Stelle ist an Erfahrungen zu erinnern, die dem widersprechen. Bislang lagen zwischen Plan und Wirklichkeit bei EPR-Reaktionen viele Jahre Verzögerung beim Bau und milliardenschwere Mehrkosten. Der EPR-Reaktor im französischen Flamanville sollte 2012 ans Netz gehen, zuletzt hieß es, dass seine Inbetriebnahme im Jahr 2024 unsicher ist. Die Kosten stiegen von anfangs geplanten 3,3 Milliarden Euro nach Angaben der EDF auf 12,4 Milliarden Euro (Die "verfluchte" Atomkraftwerks-Baustelle in Flamanville).

Der erste EPR-2-Reaktor mit einer Leistung von 1,6 Gigawatt soll laut Plan ab 2035 Strom produzieren.

Es gibt da also eine Lücke, die auch die Kernkraftbefürworter der RTE einräumen müssen.

In der Zwischenzeit müssen Wind- und Solarparks gebaut werden, die viel schneller in Betrieb genommen werden können. In Frankreich werden sie seit zehn Jahren mit einer Leistung von 2 Gigawatt pro Jahr installiert. Längerfristig, so warnte die Atomindustrie im Rahmen der Konsultation, werde sie nicht in der Lage sein, ein Tempo beim Bau von Reaktoren zu gewährleisten, das mit einem Mix vereinbar ist, der im Jahr 2050 zu 100 % aus Atomenergie besteht. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass in den nächsten 30 Jahren alle bestehenden Reaktoren, die ein Alter von 60 Jahren erreicht haben, stillgelegt werden. Ein Klippeneffekt, der mit Kernenergie allein nicht zu überwinden ist.

Figaro

Akzeptanzprobleme, Konsum

Gewarnt wird zudem vor Akzeptanzproblemen der erneuerbaren Energien, insbesondere bei den Windkraftanlagen. Von gegenwärtig 9.000 Turbinen im Land müsste man selbst im Szenario mit dem höchsten Anteil an Kernkraftwerken auf 15.000 bis 20.000 erhöhen und das lässt sich allein durch Offshore-Windparks nicht machen. Obwohl dies eine geringere Dichte als in Deutschland bedeute, befürchtet man Unruhe.

Im Bericht der Zeitung Le Monde, die in der links-liberalen Mitte eingeordnet wird, zu den Zukunftszenarien kommt die Präferenz für die Atomkraft bei den RTE-Prognosen weniger stark zum Vorschein. Dafür widmet man sich dort mehr dem Stromverbrauch.

Da gehen Szenarien für 2050 von Werten zwischen 645 TWh ("erhebliche Fortschritte bei der Energieeffizienz, aber keine Änderungen der französischen Lebensweise"), 554 TWh ("Nüchternheitspfad", "proaktive Politik und gesellschaftliche Veränderungen nötig") und 752 TWh, einschließlich 87 TWh Wasserstoff ("tiefgreifender Reindustrialisierungspfad") aus.

Die Perspektive ist etwas anders als beim Figaro, aber auch hier wird deutlich, die Atomkraft bleibt Stromproduktionsstütze:

Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit: Um Kohlenstoffneutralität zu erreichen, müssen in allen Fällen in erheblichem Umfang erneuerbare Energien eingesetzt werden, aber in fünf der sechs Szenarien wird der Kernkraft immer noch ein Anteil zugeschrieben - in drei von ihnen mehr als ein Viertel der Stromerzeugung im Jahr 2050.:.Le Monde

Laut einer Umfrage, über welche die Zeitung vor zwei Wochen berichtete, hieß es, dass 53 Prozent der Franzosen der Meinung sind, dass Kernkraft "eine gute Sache für Frankreich" ist. 45 Prozent sind aber "gegen den Bau neuer Kraftwerke".