Westliche Lesarten des China-Taiwan-Konflikts und ein Perspektivenwechsel

In Taiwan will mittlerweile mehr als eine Kapitalfraktion mitmischen. Foto: WikiLaurent / CC-BY-SA-3.0

Falsche Berichte kursieren über eine angebliche Verletzung des Luftraums über Taiwan durch China: Die Geschichte hinter dem Konflikt ist weitgehend unbekannt (Teil 2 und Schluss)

Die Vereinigten Staaten haben die Shanghai-Vereinbarungen zum Konflikt zwischen China und Taiwan immer als erzwungene Zugeständnisse an die chinesische Seite betrachtet und das in der Folgezeit immer wieder klargestellt. 1979 (ein Jahr nach dem Abbruch ihrer offiziellen diplomatischen Beziehungen) verpflichteten sie sich im Taiwan Relation Act per Gesetz selbst dazu, dem ehemaligen Bündnispartner, den sie so hart fallen gelassen und in eine politisch isolierte Lage getrieben hatten, eine "adäquate Selbstverteidigungsfähigkeit" zu liefern.

Das "Ein-China-Prinzip" behielten sie als diplomatische Floskel bei - gleichzeitig aber wurde das Verhältnis der Volksrepublik zu Taiwan zu einem Dauer-Experimentierfeld us-amerikanischer Einflussnahme auf Beijing. Ihr im Communiqué formuliertes einseitiges "Interesse" an einer "friedlichen Wiedervereinigung" behandelten sie in der Folgezeit wie ein gemeinsames (also auch von der Volksrepublik unterschriebenes) Kriterium und setzen zusätzlich die Forderung in die Welt, das Volk Taiwans müsse "in freier Abstimmung" über eine mögliche Wiedervereinigung entscheiden. Seit den 1990er-Jahren ärgern sie die VR China diplomatisch mit Reise-Visa für taiwanesische Politiker, militärischer Präsenz bei der ersten demokratischen Präsidentenwahl 1992, vor allem aber mit Waffenlieferungen an Taiwan.

Gegen alle Vereinbarungen mit der chinesischen Regierung rüsteten die USA Taiwan militärisch auf und hielten seit Mitte der 1990er-Jahre regelmäßig Militärmanöver auf der Taiwanstraße ab. Noch unter US-Präsident Bill Clinton sicherten die USA Taiwan im Jahr 2000 im Taiwan Enhancement Act weitere große Waffenlieferungen zu (vier Zerstörer, acht U-Boote sowie U-Boot-Jagdflugzeuge nebst Ausbildung durch die US-Army, die Lieferung des supermodernen Ägis-Frühwarnradar-Systems).

Gleich nach seinem Amtsantritt verkündete der nächste US-Präsident George W. Bush, dass sich die USA im Falle eines Angriffs auf Taiwan unmittelbar zu einer militärischen Beistandsleistung herausgefordert sähen, und auch Japan hat sich kurz darauf zum ersten Mal offiziell zur Schutzmacht Taiwans erklärt - kein Wunder, dass diese Patenschaften das taiwanesische Unabhängigkeitsstreben und damit "die Spannungen" in der Taiwanstraße und im Chinesischen Meer schüren.

Friedensnobelpreisträger Barack Obama erlaubte dann Waffenlieferungen im Wert von rund 14 Milliarden US-Dollar, mehr als all seine Amtsvorgänger seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Beijing 1979 zusammen. US-Präsident Donald Trump steigerte die Summe in seiner Amtszeit auf mehr als 18 Milliarden US-Dollar. Sein Nachfolger Joe Biden hat im August den nächsten Aufrüstungsschritt im Wert von rund 750 Millionen US-Dollar genehmigt.

Kurz: Mit all dem schwingen sich die USA zum Richter über das chinesische Wiedervereinigungsprojekt auf, das inzwischen übrigens nur noch auf Seiten der Volksrepublik existiert.

Taiwan - eine eigene Nation?

Denn Taiwan hat seine Staatsräson in dieser Hinsicht korrigiert. 1988 wurde der bis dahin geltende militär-diktatorische Ausnahmezustand in Taiwan abgelöst. Erstmals gab es so etwas wie Gewaltenteilung und Wahlen. Die dafür nötige Oppositionspartei DPP (Democratic Progressive Party) hatten us-amerikanische Unternehmer und taiwanesische Dissidenten übrigens 1986 in Los Angeles gegründet.

Der Grund für den Wechsel? Das ist vielleicht nicht ganz eindeutig zu beantworten. Vielleicht genügte die Ein-Parteien-Regierung Taiwans den zwischenzeitlich entstandenen verschiedenen Kapitalfraktionen des Inselstaats nicht mehr, vielleicht kamen diverse US-Interessen (trotz aller materiellen Abhängigkeit) nicht genügend zum Zug. Es kann aber auch sein, dass wichtige US-Strategen, die damals davon ausgingen, dass die Volksrepublik ihre ökonomische Öffnung durch eine politische Liberalisierung ergänzen würde, es aus außenpolitischen Gründen etwas unpassend fanden, dass der eigene Verbündete keinen Funken demokratischer daherkam und nicht sonderlich als Vorbild taugte, das man den Festland-Chinesen vorhalten konnte.

Einerseits sehen die westlichen Nationen ihre Art des Regierens schlicht als die "menschengemäße" Art an und können sich tatsächlich keine bessere oder schönere Staatsordnung vorstellen; andererseits gibt es bei ihnen ganz schlicht das praktische Bedürfnis, sich in einem anderen Staatswesen, mit dem sie Handel und Kapitalexport betreiben, Einflussmöglichkeiten zu verschaffen. Das geht über demokratische Parteien und NGOs erheblich einfacher, als wenn man es mit "Betonkommunisten" zu tun hat.

Wie dem auch sei: Seitdem jedenfalls verfügt Taiwan über eine "Demokratie" nach westlichem Vorbild. Das heißt: Während alles Wesentliche im Leben seiner Bürger mit den "alternativlosen" Erfordernissen weiteren Wirtschaftswachstums feststeht, dürfen sich diese alle vier Jahre ihre Regierungsvertreter aus zwei oder mehr Parteien auswählen.

Die neue Partei, die sich dem Volk in Taiwan zur Wahl stellte, die DPP, hat sich dabei von Anfang an als Partei der Zukunft, des Fortschritts und des modernen Taiwans präsentiert. Während die alte Partei, die Kuomintang, ihren Jahrzehnte hart geltend gemachten Anspruch auf eine Wieder-Eroberung der Volksrepublik inzwischen angesichts der realen Machtverhältnisse eher stillschweigend aus dem Verkehr gezogen hat, lässt sie die Vorstellung von der "einen chinesischen Nation" bestehen - alles andere wäre für sie ideologisch vermutlich zu harter Verrat.

Dagegen setzt die DPP offensiv die Vorstellung einer taiwanesischen Eigenstaatlichkeit - was bei den jüngeren Wählern, für die die Kamellen von gestern eher unbedeutend sind, zunehmend gut ankommt. Um die Vorstellung einer eigenen Nation Taiwan zu unterfüttern, hat die DPP inzwischen auch damit begonnen, den 1949 ziemlich robust zur Seite geräumten "indigenen Völkern" Taiwans Aufmerksamkeit zu schenken, hat deren Sprachen untersucht, sich für die "Härten der Vergangenheit" bei der Übernahme der Insel entschuldigt usw. - alles interessante Beispiele für nationale Geschichtspolitik und patriotische Mythenbildungen.

Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als sei das Anliegen der Fortschrittspartei "defensiv" - schließlich besteht sie ja nicht mehr, wie früher die revanchistische Kuomintang, auf einer Wiedereroberung Chinas, sondern will "nur" noch eine Anerkennung ihrer Existenz, sprich: Eigenstaatlichkeit. Und ja: Warum kann die riesige Volksrepublik mit ihren 1,4 Milliarden Menschen nicht auf diese gewissermaßen lächerlichen 23 Millionen Insulaner verzichten?

Der unsinkbare Flugzeugträger

Es gibt mehrere Gründe, warum die US-amerikanische Taiwan-Politik wie die inner-taiwanesische Entwicklung für die Volksrepublik China nicht hinnehmbar ist.

Der erste ist ein sehr prinzipiell nationaler Grund. Seit ihrem Sieg im Bürgerkrieg verlangt die chinesische KP die Wiederherstellung der nationalen Einheit des Landes - ein Anliegen übrigens, das ja ansonsten, gerade in Deutschland, durchaus auf viel Verständnis stößt. Die Volksrepublik hat sich unter anderem deshalb zum Westen hin geöffnet und sich mit ihrem staatlich initiierten und geleiteten Umbau in ein kapitalistisches Land zu einer extrem erfolgreichen Weltwirtschaftsmacht entwickelt, um ihren nationalen Ambitionen zum Durchbruch zu verhelfen.

Sie hat 1997 in den Verhandlungen mit Großbritannien einem 50-jährigen Autonomiestatus für Hongkong zugestimmt, um mit dem Modell "Ein Land, zwei Systeme" auch eine Vorlage für eine eventuelle Wiedervereinigung mit Taiwan zu liefern, die den taiwanesischen (Autonomie-)Ansprüchen und Besonderheiten Rechnung trägt. Das Ziel eines wiedervereinigten China stellt aus ihrer Sicht damit ein quasi "staats-natürliches" Recht dar, das irgendwann einzulösen ist - für sie ein Herzens-Anliegen, für das sie von anderen Staaten Respekt verlangt.

Der zweite Grund ist geostrategischer Art und bezieht seine neue Aktualität aus der Auseinandersetzung, die die USA gegen ihren neuen Hauptfeind ausgerufen haben. Mit ihren jährlichen massiven Waffenlieferungen zur "Herstellung des militärischen Gleichgewichts in der Region" rüsten sie Taiwan zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Aufmarschs gegen die Volksrepublik her: Nur 130 bis 180 km vom chinesischen Festland entfernt ist die Insel in ihrer Bedeutung als quasi unsinkbarer Flugzeugträger durchaus vergleichbar mit der Rolle Kubas als Vorposten der Sowjetunion im Kalten Krieg.

Übrigens: dessen Aufrüstung aus Moskau haben die USA bekanntlich mit einer atomaren Weltkriegsdrohung (Stichwort: Kuba-Krise!) unterbunden.

Ihre 1982 berechnend ausgesprochene Duldung des Souveränitätsanspruchs der Volksrepublik auf Taiwan als Teil des "Einen China" haben die Vereinigten Staaten heute de facto aus dem Verkehr gezogen. Sie heizen die Unabhängigkeits-Diplomatie der taiwanesischen DPP durch Einladungen (beispielsweise zu Joe Bidens Amtseinführung) an. Am Donnerstag vergangener Woche hat Biden überraschend mitgeteilt, die USA würden Taiwan gegen chinesische Angriffe verteidigen - es gebe eine Vereinbarung dazu.

Damit hätten sie auch den Taiwan Relation Act von 1979 außer Kraft gesetzt. Zwar dementierte das Weiße Haus dies unmittelbar und erklärte, dass sich an der prinzipiellen Politik - "nur" eine Stärkung der Selbstverteidigungskräfte Taiwans - nichts geändert habe. Ob Ungeschicklichkeit oder arbeitsteilige Vorkriegs-Diplomatie: So werden in der Region jedenfalls "Spannungen" erzeugt, die Volksrepublik gezielt im Unklaren über den Stand der amerikanischen Planung gelassen und Washington behält sich gleichzeitig - bei allem Anheizen der Feindseligkeiten - die Freiheit seiner Entscheidung über ein militärisches Eingreifen vor.

Der dritte Grund liegt in der Bedeutung der Taiwanstraße als einer der weltweit wichtigsten Handelsstraßen. Deren freie Befahrbarkeit verlangen die Vereinigten Staaten ebenso wie EU und Japan für sich - als Teil ihrer "vitalen Interessen" - wie es in ihrem Sprachgebrauch heißt. Zitat aus dem Deutschlandfunk: "Das Südchinesische Meer und die Taiwanstraße sind wichtige Routen für den Welthandel und für den Wohlstand in den USA, Japan und Europa. Damit die Navigationsfreiheit nicht gestört wird, gebe es jetzt ein Umdenken, sagt US-Militärstratege Fanell. Franzosen, Briten und auch Deutschland verstärken ihre Militärpräsenz im Indopazifik."