Verschwörungsmythen und ein Kampfbegriff

Im Münchner NSU-Prozess grassierten angeblich Verschwörungstheorien "wie ein Virus". Die Gründe lieferten vorrangig Geheimdienstzeugen. Archivbild: Warden, Björn Höfling / CC-BY-SA-3.0

Der NSU-Skandal ist ein Paradebeispiel dafür, wie staatliche Akteure Raum für Verschwörungstheorien schaffen – und wie antiaufklärerisch der gängige Sprachgebrauch ist

Es ist ein Zauberwort, mit dem handfeste Geheimdienstskandale auf eine Stufe mit wirren Gerüchten über Nano-Chips in Covid-19-Impfstoffen oder die Schutzwirkung von Aluhüten gestellt werden können: Verschwörungstheorien stehen "im allgemeinen Sprachgebrauch für abwegige, unsinnige Behauptungen", schrieben unlängst die Kollegen Andreas Anton und Alan Schink. Durch die Corona-Krise ist die "Theorielandschaft" sicher um etliche Beispiele reicher, auf die genau dieser Sprachgebrauch zutrifft.

Präziser wäre es, von Verschwörungsmythen zu sprechen, wenn der "Theoretiker" jede Plausibilitätsprüfung ablehnt. Zum Beispiel, indem er auf freundliche Nachfragen wie "Denkst du nicht, dass es dafür viel zu viele Mitwisser bräuchte?" antwortet: "Deine Verblendung zeigt mir doch schon, wie einfach es ist, die Massen zu täuschen".

Das Wort Verschwörungstheorie kann aber auch ein Kampfbegriff sein, wenn es gebraucht wird, als sei so etwas wie eine Verschwörungspraxis völlig undenkbar und Geheimdienste oder Großkonzerne grundsätzlich vertrauenswürdig.

"Operation Konfetti": Von der Verschwörungstheorie zur Gewissheit

Vor fast zehn Jahren stellte einer meiner Kollegen in einer kleinen linken Zeitungsredaktion eine ziemlich banale Verschwörungstheorie auf, die wir mangels Beweisen nicht nach außen trugen: "Beim Verfassungsschutz werden jetzt bestimmt fleißig Akten geschreddert", sagte er - wenige Tage, nachdem in Eisenach zwei seit längerer Zeit untergetauchte Neonazis tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden worden waren. Durch den mutmaßlichen Doppelselbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und einen zynischen Videoclip, den ihre Komplizin Beate Zschäpe verschickt haben soll, wurde die rechtsterroristische Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) im November 2011 der breiten Öffentlichkeit bekannt.

Zehn überwiegend rassistisch motivierte Morde aus den Jahren 2000 bis 2007, zwei Sprengstoffanschläge und mehrere Banküberfälle konnten dem NSU innerhalb weniger Tage zugeordnet werden. Trotz Brandstiftung erwiesen sich sowohl das Wohnmobil als auch die Zwickauer WG des mutmaßlichen Kerntrios als wahre Fundgruben.

Wie viel das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vor dem 4. November 2011 vom NSU gewusst oder geahnt hatte, ist bis heute unklar. Die Sache mit den geschredderten Akten stimmte jedenfalls. Sie ging später als "Operation Konfetti" in die Geschichte ein und war nur so lange eine Verschwörungstheorie gewesen, bis im Juni 2012 eben herauskam, dass sie stimmte.

Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag reagierten empört, als sie davon erfuhren und brachten das auch öffentlich zum Ausdruck. Denn betroffen waren ausgerechnet Akten über V-Leute aus der NSU-Brutstätte "Thüringer Heimatschutz" (THS), die ab 1996 angeworben worden waren. Mitten in der Radikalisierungsphase von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, die Anfang 1998 in Jena untergetaucht waren.

Weit hergeholt war die Schredder-Theorie aber auch vor Bekanntwerden des Sachverhalts nicht - denn die Problematik, dass sich in der ultrarechten Szene V-Leute von Sicherheitsbehörden fast schon auf die Füße treten, war bekannt, seit im Jahr 2003 das erste NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht an der "mangelnden Staatsfreiheit" der Partei gescheitert war.

Seit der Enttarnung des Neonazikaders Tino Brandt als V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes im Jahr 2001 war bekannt, dass die Inlandsgeheimdienste keine Hemmungen hatten, auch Führungskräfte der Szene durch V-Mann-Honorare zu sponsern. Man habe dem überzeugten Neonazi Brandt seinen "Verräterkomplex" mit Geld versüßt, sagte einer seiner V-Mann-Führer später im Münchner NSU-Prozess. Berechnungen der Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern ergaben, dass im "Thüringer Heimatschutz" zeitweise etwa jedes vierte Mitglied V-Person gewesen sein muss.

Das Geständnis des "Lothar Lingen"

Der Beamte "Lothar Lingen", der die vorsätzliche Aktenvernichtung im BfV zu verantworten hatte, gab später in einer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft als Grund an, er habe seinem Amt die peinliche Frage ersparen wollen, warum es trotz der zahlreichen "Quellen" nichts von terroristischen Aktivitäten des Trios gewusst habe: "Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war", so Lingen laut Vernehmungsprotokoll von 2014. "Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS und in Thüringen, nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht."

Der NSU-Skandal ist ein Paradebeispiel dafür, wie staatliches Handeln zu Verschwörungstheorien einladen kann und den Raum dafür öffnet, indem Aufklärung verweigert wird. Denn die Identität der Thüringer V-Leute, deren Akten 2011 geschreddert wurden, ist bis heute nicht bekannt. Die Akten konnten auch angeblich nicht vollständig rekonstruiert werden - und wenn doch, werden sie unter Verschluss gehalten.

Der V-Mann-Führer am Tatort

"Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren", sagte der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Klaus-Dieter Fritsche 2012 im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Während des Münchner NSU-Prozesses von 2013 bis 2018 gab es Momente, in den sich Beobachter fragten, ob nicht zufällig V-Leute auf der Anklagebank saßen. Neben der Hauptangeklagten Beate Zschäpe standen vier mutmaßliche NSU-Helfer vor Gericht.

Ein Ex-V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, der nachweislich an einem der Tatorte gewesen war (anders als Zschäpe, die nur planerisch beteiligt gewesen sein soll), wurde allerdings nie angeklagt, sondern nur mehrfach als Zeuge geladen. Der Beamte Andreas Temme blieb jedes Mal bei seiner Version, er habe im Internetcafé von Halit Yozgat in Kassel nichts von dem Mord an dem jungen Besitzer bemerkt und nur zufällig am selben Tag ein längeres Telefonat mit seinem V-Mann aus der Neonaziszene geführt, obwohl er sonst nur islamistische "Quellen" betreut hatte.

Yozgats Eltern und deren Anwälte waren nicht die einzigen im Gerichtssaal, die Temme kein Wort glaubten. Auch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wurde mindestens einmal laut, als er Temme an seine Wahrheitspflicht erinnerte. Zwei hessische Polizeibeamte äußerten im Zeugenstand auch die Vermutung, dass der V-Mann-Führer entweder etwas beobachtet habe, das er nicht preisgebe, oder selbst involviert gewesen sei. Sie hatten aber Temmes V-Leute wegen einer Sperrerklärung des damaligen hessischen Innenministers Volker Bouffier (CDU) nicht befragen können.

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