Flüchtlinge sterben, "Werte" nicht

Wer so übers Mittelmeer zu kommen versucht, weil er auf "europäische Werte" setzt, hat kaum annehmbare Alternativen. Foto: Gerhard Lipold auf Pixabay (Public Domain)

Ein Eiserner Vorhang, eine Mauer - der Westen erwärmt sich für Neuerungen an der Grenze zum Osten und anderswo. Verantwortung tragen sollen aber die "Autokraten" der Transitländer

Die Öffentlichkeit ist alarmiert - beziehungsweise: Sie wird es. Flucht und Migration treten wieder in ihren Blickpunkt: "Horst Seehofer (CSU) schlägt am Mittwoch im Kabinett Alarm. Der Innenminister bringt ein Papier, mit sieben Seiten. Sein Haus spricht dort von einer ‚hoch dynamischen Migrationslage‘ mit kontinuierlich steigenden Zahlen", schrieb die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) am 21. Oktober.

Diesmal sind es nicht die vielen Ertrinkenden im Mittelmeer - die sind allenfalls noch Thema in Kleinstmeldungen -, sondern die Flüchtlinge, die über das Baltikum oder Polen nach Europa kommen. Dabei wird in der Sache, abgesehen vom grenzschützenden Aufrüstungsbedarf, wenig Neues geboten. Erstaunlich ist jedoch, wie die damit verbundenen Fragen in der Öffentlichkeit verhandelt werden.

Flüchtlinge, Migranten oder Grenzverletzer?

Schon die Einordnung der Personen, die sich zur Flucht aufmachen, als Fall von Migration fällt auf. Lange Zeit war es selbstverständlich, Asylsuchende nach ebendiesem Status, den sie in der modernen Staatenwelt haben, zu benennen - oder eben als Flüchtlinge. Die Kennzeichnung als Migranten stellt die Notsituation der Asylsuchenden infrage und den betreffenden Personenkreis mit Auswanderern oder denjenigen, die sich aus beruflichen Gründen regional verändern wollen, auf eine Stufe.

Mehr und mehr ist auch von illegalen Grenzüberschreitungen oder Grenzverletzungen die Rede: "Seehofer bietet an, die Präsenz der Bundespolizei deutlich zu erhöhen, um die illegale Einreise von Flüchtlingen zu unterbinden." (Süddeutsche Zeitung / SZ online, 20. Oktober.) Damit nehmen die Politik und in deren Gefolge die Medien eine Position ein, die sich zur Verteidigung der Grenzen gegen illegale Elemente verpflichtet sieht. So wird im Prinzip jedem hochgerüsteten Grenzschutz, ob Zaun, Stacheldraht oder Mauer, das Wort geredet.

Apropos illegal: Wie sollten Flüchtlinge denn auch anders ins Land kommen? Einen Visumsantrag in Afghanistan oder Syrien können die Betreffenden ja schlecht stellen, um danach ins Flugzeug zu steigen. Wenn sie Asyl beantragen wollen, müssen sie den Boden der EU oder Deutschlands erreichen - irgendwie. Insofern sind Asylsuchende in ihrer größten Zahl automatisch "Grenzverletzer" und damit illegal oder kriminell.

Die Entscheidung der Politik, diesen Umstand zu betonen und darauf zu bestehen, dass die Betreffenden gefälligst regulär einreisen sollen, kommt der Abschaffung des Asylrechts gleich. Doch so soll die Sachlage nicht erscheinen, schließlich halten Deutschland und die EU sich zu Gute, Vertreter von allerhöchsten Werten zu sein. Doch dazu später mehr.

Was die Sache betrifft, praktizieren polnische Grenzbeamte genau das, was Seehofer fordert, die Abschiebung illegal eingereister Flüchtlinge: "Für Tausende Migranten aber endet der Weg an der Grenze. Offiziell verhindern Polens Grenzschützer täglich ‚Versuche illegaler Grenzübertritte‘, wobei viele offenbar mehrfach gezählt werden. Internationalem Recht zufolge haben Migranten, auch wenn sie eine Grenze illegal überquert haben, das Recht einen Asylantrag zu stellen." (SZ, 27. Oktober.)

So bekommt die alte Protestparole "legal, illegal, scheißegal" eine ganz neue Bedeutung, wird sie doch nicht mehr trotzig gegen die Regierenden gewandt, sondern von diesen selbst praktiziert.

Der Ge- und Missbrauch von Menschen

Mit den Flüchtlingen an den Grenzen der baltischen Staaten und Polens hat die Diskussion um die Asylsuche eine neue Wende erhalten. Schuld an der Flucht sind nicht mehr die elenden Zustände in den Ursprungsländern derjenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, sondern der "Autokrat" Alexander Lukaschenko: "Seehofer: Belarus setzt Flüchtlinge als Waffe ein", schlagzeilte die SZ am 21. Oktober.

Bevor man dem zustimmt (weil die "Unregelmäßigkeiten" bei Lukaschenkos Wahl - anders als die in den USA oder Deutschland - an die große Glocke gehängt wurden), sollte man sich kurz einiges ins Gedächtnis rufen. Hatten die europäischen Staaten nicht nach der Wahl in Belarus die Demonstranten zur Flucht ermuntert und Flüchtlinge dazu benutzt, die Herrschaft in ihrem Heimatland aggressiv in Frage zu stellen? All das zu dem Zweck, die Unmenschlichkeit des dortigen Regimes anzuprangern?

Denn um ein "Regime" soll es sich dort selbstverständlich handeln, obwohl Lukaschenko - anders als etwa unsere Freunde in Saudi-Arabien, die ein ehrenwertes Mitglied der G 20 sind - sich um die Abhaltung von Wahlen bemüht. Es soll eben mit den hehren Werten von Demokratie und Menschenrechten der dortigen Herrschaft von vornherein jedes Recht abgesprochen werden.

Wenn dann der Präsident des angeklagten Landes die Vertreter der hohen europäischen Werte mit den Opfern ihrer Politik in Afghanistan, Syrien, Irak oder Afrika konfrontiert, dann soll das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein! Und zur Menschlichkeit soll es natürlich gehören, dass man diejenigen, die auf diese Werte gesetzt haben, in die Kälte zurückstößt und dort sterben lässt.

Das Verbrechen, dessen sich der Präsident von Belarus schuldig macht, besteht darin, dass er den Flüchtlingen die Weiterreise ermöglicht und sich weigert, weiterhin als Bollwerk der EU zu fungieren; dass er nicht dienstbeflissen den in den Augen der EU unerwünschten Zuzug abwehrt:

"Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte als Reaktion auf die Sanktionen der Europäischen Union erklärt, er werde die Migranten mit Ziel EU nicht mehr aufhalten. (…) Viele Migranten aus dem Nahen Osten, zumeist aus dem Irak, aus Zentralasien und Afrika profitieren dabei bisher von einer erleichterten, visafreien Einreise nach Belarus, die Lukaschenko per Dekret gestattet hat", so die SZ.

Der harte Vorwurf lautet, dass hier Menschen zu politischen Zwecken missbraucht werden. Und er hat Lukaschenko den Titel "Schleuser" eingebracht: "Bundesinnenminister wirft dem Regime in Minsk vor, Schleusungen in Richtung der Europäischen Union zu organisieren." Der Vorwurf des politischen Missbrauchs von Menschen ist aber insofern krude, als diejenigen, die ihn erheben, dasselbe seit langem praktizieren.

Denn: Asylsuchende sind nicht gleich Asylsuchende. Vor einer wachsenden Zahl an Flüchtlingen wurde nicht gewarnt, als viele Bürger aus Belarus Asyl in den baltischen Staaten oder in Polen, dem bekannten Hort demokratischer Werte, suchten. Im Gegenteil, sie waren hoch willkommen, bekamen Radiosendungen in Richtung Belarus zur Verfügung gestellt und waren der menschliche Beweis für das besagte unmenschliche Regime.

Als Belastungszeugen gegen einen Staat, der sich nicht in Richtung EU bewegt, stattdessen die Nähe von Russland sucht, waren diese Menschen willkommen und als Mittel für diesen politischen Zweck höchst brauchbar.

Wenn jedoch ein Lukaschenko, gegen den sich die ganze Agitation richtet, ähnliche Mittel benutzt und seiner von Europa diktierten Funktion in Sachen Flüchtlingsabwehr nicht mehr nachkommt, sondern sie konterkariert, dann liegt eindeutig Missbrauch vor.

In der Sache ist bei der Behandlung der Menschen an der Grenze zwischen Polen und Belarus nicht zu unterscheiden, wer da schäbiger mit den dort festsitzenden Flüchtlingen umgeht. Aber die westliche Öffentlichkeit hat ein ganz einfaches Kriterium: Das Asylrecht ist nur dann gültig, wenn es der eigenen Politik dient, sonst liegt Missbrauch vor - und gegen den ist jede Maßnahme gerechtfertigt.

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