Sachbücher des Monats: November 2021

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, RBB Kultur, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Horst Bredekamp
Michelangelo

Michelangelos revolutionäres Wirken in Kunst und Politik - erzählt entlang der deutenden Ausleuchtung jedes einzelnen Werkes der Entwicklungsgeschichte des Meisters und eingebettet in ein plastisches Zeitpanorama. Mit ikonisch gewordenen Werken wie dem David, der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle oder Bauten wie der Kuppel des Petersdoms gehört Michelangelos Schaffen zweifelsohne zum kulturellen Menschheitserbe. Horst Bredekamp nimmt Michelangelos Leben vom Werk aus in den Blick und begreift das OEuvre als Stimulus der Vita. Bredekamp untersucht jedes einzelne Kunstwerk von der Hand Michelangelos im zeitgeschichtlichen und kunsthistorischen Kontext sowie innerhalb der Entwicklung des höchst gefragten Künstlers. Bredekamp präsentiert uns einen von seinen Werken getriebenen, fortwährend vertragsbrüchig und säumig bleibenden Meister, der sich gänzlich dem künstlerischen Imperativ eines jeden Werks verschreibt und sich vom zu bearbeitenden Material selbst leiten lässt. Indem seine Kunstwerke sich dem Prinzip der Vollendung verweigerten, sprengte Michelangelo alle Konventionen.
Verlag Klaus Wagenbach, 816 Seiten mit ca. 900 meist farbigen Abbildungen, € 89,00
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Andreas Reckwitz/Hartmut Rosa
Spätmoderne in der Krise
Was leistet die Gesellschaftstheorie?

In Zeiten tiefgreifender sozialer Umbrüche und manifester Krisen schlägt die Stunde grundsätzlicher Analysen, welche die gegenwärtige Gesellschaft als ganze in den Blick nehmen, ihre Strukturmerkmale und Dynamiken untersuchen und vielleicht sogar Wege aus der krisenhaften Entwicklung aufzeigen. In jüngster Zeit haben Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa groß angelegte, jedoch ganz unterschiedlich akzentuierte Gesellschaftstheorien vorgelegt, welche die gegenwärtigen Debatten über die Spätmoderne maßgeblich bestimmen. In diesem gemeinsamen Buch treten sie nun in einen kritischen Dialog.
Suhrkamp Verlag, 313 Seiten, € 28,00
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Natascha Strobl
Radikalisierter Konservatismus
Eine Analyse

Von der Krise der Sozialdemokratie ist allerorten die Rede. Doch auch viele traditionsreiche Mitte-rechts-Parteien befinden sich im Niedergang oder zumindest in einer Zwickmühle: Sollen sie sich für progressive urbane Milieus öffnen? Oder lieber ihr konservatives Profil schärfen? Während Angela Merkel für das eine Modell steht, repräsentieren Politiker wie Donald Trump oder Sebastian Kurz das andere. Sie sind Vertreter eines radikalisierten Konservatismus. Natascha Strobl analysiert ihre rhetorischen und politischen Strategien. Sie zeigt, wie sie Ressentiments bedienen, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren, oder eigene Narrative erschaffen, um "Message Control" auszuüben und Kritik als Fake News abzutun. Statt inhaltlicher Auseinandersetzung suchen sie die Konfrontation.
Suhrkamp Verlag (es 2782), 189 Seiten, €16,00
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Stephan Malinowski
Die Hohenzollern und die Nazis
Geschichte einer Kollaboration

Seit über 100 Jahren haben die "Oberhäupter" der Hohenzollern immer wieder mit Juristen, Historikern, Journalisten, Ghostwritern und PR-Beratern zusammengearbeitet, mit deren Hilfe sie das Bild der Familie in der Öffentlichkeit aufpolierten. Nun werden Rollen und Selbstdarstellung der wichtigsten Familienmitglieder von Stephan Malinowski erstmals analysiert und dargestellt: In einer großen historischen Erzählung zieht er den Bogen über drei Generationen von 1918 bis in die Gegenwart und beschreibt das politische Milieu, in dem sich ihre Akteure bewegten.
Propyläen Verlag, 752 Seiten, € 35,00
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Wolfgang Schivelbusch
Die andere Seite
Leben und Forschen zwischen New York und Berlin

Wolfgang Schivelbusch blickt auf die Zeiten seines Lebens zurück und formt daraus zugleich eine kulturgeschichtliche Biographie der Bundesrepublik. Ein Leben, das durchweg in Beziehung zu den USA gestanden hat: die GIs im Frankfurter Freibad, denen er als Kind bewundernd gegenüberstand, die Studentenrevolte und sein Aufbruch in das gritty New York von 1970 und das intellektuelle Leben dort, der Blick aus seiner Wohnung auf das World Trade Center bis zur Rückkehr nach Deutschland. Schivelbusch bringt in diesem Buch die Themen zusammen, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben: die Beziehung von Geist und Macht, die Kultur der Niederlage, Physiologie und Konsumtion. Er beschreibt den Weg aus der Eindeutigkeit der Nachkriegszeit zum existenziellen Unbehagen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks.
Rowohlt Verlag, 336 Seiten, € 26,00
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Adam Tooze
Welt im Lockdown
Die globale Krise und ihre Folgen

Adam Tooze erzählt in seinem Buch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021. Der Wirtschaftshistoriker schildert nicht nur, wie und warum Staaten und nationale Ökonomien auf jeweils eigene Weise und mit sehr unterschiedlichen Resultaten auf das Geschehen reagiert haben. Er analysiert die Pandemie auch im Kontext der anderen großen Krisen unserer Zeit, von der Finanzkrise über die Klimakrise bis zur Flüchtlingskrise.
Übersetzt von Andreas Wirthensohn.
C. H. Beck Verlag, 408 Seiten, € 26,95
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Per Leo
Tränen ohne Trauer
Nach der Erinnerungskultur

Im Umgang mit dem Nationalsozialismus haben die Deutschen manches geleistet, sie sind aber auch vielen Illusionen erlegen. Heute droht eine Vergangenheit, die umso häufiger beschworen wird, je weniger man von ihr weiß, den Blick auf die Gegenwart zu verstellen. Migration und Wiedervereinigung haben unser Land so verändert, dass wir lernen müssen, anders auf uns selbst zu blicken. Weniger provinziell, weniger zwanghaft, weniger egozentrisch. Weltoffener, vielfältiger, neugieriger. Ein Leitmotiv, das uns dabei den Weg weisen könnte, ist für Leo das deutsch-jüdische Verhältnis. Wer bereit ist, die routinierte Betroffenheit über den Holocaust hinter sich zu lassen, wird auf eine verblüffende Vielfalt stoßen.
Verlag Klett-Cotta, 272 Seiten, € 20,00
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Karl Heinz Bohrer
Was alles so vorkommt
Dreizehn alltägliche Phantasiestücke

Die "Dreizehn alltäglichen Phantasiestücke", mit denen Karl Heinz Bohrer nach seiner wissenschaftlichen Studie über den "Hass" zu kleineren, handlichen Formen übergeht, sind so alltäglich nicht: Sie zeigen die Handschrift eines Intellektuellen, der über ausgewählte Befindlichkeiten, Vorlieben, Emphatisierungen, Verstörungen, auch Antipathien eines langen Lebens Auskunft gibt. Mit einem suggestiven Erlebnisbericht über eine Bahnfahrt nach Brüssel - auf dem Höhepunkt der Hitzeperiode des Jahres 2018 -, die in einer apokalyptischen Erfahrung buchstäblich zu entgleisen droht, setzt Bohrer den Ton, bevor es weitergeht zu den Fundamenten unseres Gefühlslebens: zu Herkunft und Wesensart des Ressentiments etwa, zu den Wurzeln von Freundschaft und Entfremdung, zu Reflexionen über Isolation, Einsamkeit und Alleinsein und zu narzisstisch gespiegelter Selbstwahrnehmung.
Suhrkamp Verlag, 185 Seiten, € 18,00
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Silvia Ferrara
Die große Erfindung
Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften

Dieses Buch erzählt von der vielleicht größten Erfindung der Welt. Ohne sie wären wir nur Stimme. Wenigstens viermal in der Weltgeschichte wurde die Schrift neu erfunden: in Ägypten, Mesopotamien, China und Mexiko. Silvia Ferrara verbindet Archäologie, Anthropologie und Neurowissenschaft, um die frühesten Phasen der Entstehung von Schriftkulturen zu vergegenwärtigen. Und sie schlüpft in die Rolle einer wissenschaftlichen Detektivin, um ihre Passion mit uns zu teilen: die Entschlüsselung bislang rätselhafter Schriften wie der kretischen Hieroglyphen, der Zeichen auf dem Diskos von Phaistos oder der Rongorongo-Schrift von der Osterinsel.
Übersetzt von Enrico Heinemann.
C. H. Beck Verlag, 251 Seiten, € 25,00
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Katharina Rogenhofer/Florian Schlederer
Ändert sich nichts, ändert sich alles
Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen

Sie hat "Fridays For Future" nach Wien gebracht und ist die Sprecherin des Klimavolksbegehrens, sie ist 27, das Gesicht des Klimaschutzes in Österreich und mit ganzem Herzen dabei. Katharina Rogenhofer, studierte Biologin, kennt die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft und Politik - erst recht in schwierigen Pandemiezeiten - und weiß diese einfach, aber nie vereinfachend zu erklären. Sie arbeitet mit den politischen Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene. Ihr Buch ist ein Plädoyer für einen Green New Deal.
Paul Zsolnay Verlag, 288 Seiten, € 20,00
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Besondere Empfehlung des Monats November von Joachim Treusch:

David Cahan,
Helmholtz
Ein Leben für die Wissenschaft

Hermann von Helmholtz gilt als Gigant der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Seine vielfältigen Forschungen und Interessen haben auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Meteorologie, Physiologie und Physik zu wegweisenden Erkenntnissen geführt. Helmholtz verhalf dem Energieerhaltungssatz und der Dreifarbenlehre zum Durchbruch, er hat den Augenspiegel und die Helmholtzspule erfunden sowie ein beachtliches philosophisches Werk hinterlassen. David Cahan hat innerhalb von 30 Jahren die umfangreichste Biographie zu dem deutschen Universalgelehrten geschaffen. Er zeichne die Tragweite von Helmholtz Arbeit für die deutsche und internationale Wissenschaft nach und beleuchtet die ganz persönlichen Seiten des Universalgelehrten.

2018 legt der US-Historiker David Cahan die Biographie "Helmholtz - a life for science" vor. Sie wird sofort als "Standardwerk" begrüßt. Jetzt ist sie pünktlich zum 200. Geburtstag von Hermann von Helmholtz in deutscher Übersetzung erschienen. Eine anspruchsvoll lange, aber spannende und unterhaltsame Lektüre. Cahan verbindet gekonnt die persönliche mit der wissenschaftlichen Biographie und beschreibt umfassend deren Wirkung auf die wissenschaftliche, wissenschaftspolitische und gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts: Vom Medizinstudium zum weltweit respektierten Physiologen und Physiker, immer wieder erfolgreich Disziplinen übergreifend und zusammenführend, gleichzeitig Sprecher und Förderer der Wissenschaft und ihrer Anwendung mit enormer politischer und öffentlicher Ausstrahlung - "an intellectual giant" wie J.C. Maxwell formuliert. Der Lohn des Lesens ist hoch!.

Joachim Treusch

Übersetzt von Marlene Fleißig u.a.
Verlag wbgTHEISS, Darmstadt 2021, 815 Seiten (+175 Seiten Anhang), € 89,00
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Prof. Dr. Wolfgang Hagen, Leuphana Universität Lüneburg; Knud von Harbou, Publizist und Autor, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

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