"Wir vernichten Beweise": Adbusting zum Jahrestag der NSU-Aufdeckung

Der Verfassungsschutz spielte im NSU-Komplex keine unbedeutende Nebenrolle. Foto: Interventionistische Linke (IL)

Wie eine Kommunikationsguerilla in mehreren Städten an die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex erinnert

"Wir gehen über Leichen", "Wir vernichten Beweise", "Wir finanzieren unsere Naziszene" und "Extrem sind immer nur die anderen": Diese vier Sprüche sind auf täuschend echt aufgemachten Plakaten des "Bundesamts für Verfassungsschutz" zu lesen, die in der Nacht zum Donnerstag in mehreren Städten in Werbekästen platziert wurden. Anlass für die Kommunikationsguerilla-Aktion ist der zehnte Jahrestag der Aufdeckung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) am 4. November 2011.

Mit dem "Adbusting" soll an die Verstrickung von V-Leuten und möglicherweise auch V-Mann-Führern des Inlandsgeheimdienstes in das rechte Terrornetzwerk erinnert und konsequente Aufklärung eingefordert werden. Zu der Aktion bekannt hat sich die Interventionistische Linke (IL) unter dem Twitter-Hashtag #10JahreDanach. "Der VS hat mitgeschossen", heißt es dort über den Verfassungsschutz. Die Plakate seien in 20 Städten, darunter Berlin, Hamburg, Hannover, Leipzig, Nürnberg und Stuttgart in mehreren hundert Werbekästen aufgehängt worden.

Gefordert wird damit die Abschaffung des Verfassungsschutzes und eine lückenlose Aufklärung des NSU-Komplexes. "Zehn Menschen könnten noch leben, wenn die Geheimdienste den NSU nicht gedeckt hätten", begründete IL-Sprecher Christoph Kleine die Aktion.

Schreddern und vertuschen

Nur eine Verschwörungstheorie? - Zumindest das gezielte Schreddern der Akten von V-Personen aus der NSU-Brutstätte "Thüringer Heimatschutz" und die Aussage des ehemaligen V-Mannes und Szene-Aussteigers "Tarif" und einiges mehr sprechen dafür, dass die Mord- und Anschlagsserie bewusst in Kauf genommen wurde. Ab 2014 erzählte Michael von Dolsperg alias "Tarif" in Interviews, er habe bereits 1998 dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) einen Tipp gegeben, der zur Festnahme der drei untergetauchten "Bombenbastler" hätte führen können.

Ein Thüringer Neonazi und Jugendfreund des Trios soll "Tarif" damals gefragt haben, ob er die drei Untergetauchen verstecken könne. Dolsperg will darüber umgehend mit seinem V-Mann-Führer gesprochen haben. In diesem Gespräch habe er aber die Anweisung erhalten, sich nicht darauf einzulassen. Das allerdings dementierte das BfV. Die Akte "Tarif" wurde nur wenige Tage nach der NSU-Aufdeckung im November 2011 geschreddert - zusammen mit weiteren Akten von V-Personen, deren Identität bis heute nicht bekannt ist.

Das V-Mann-Sammelsurium

Mindestens 40 V-Personen deutscher Sicherheitsbehörden waren nach Berechnungen der Untersuchungsausschüsse von Bund und Ländern im "Thüringer Heimatschutz" unterwegs gewesen - darunter auch dessen Anführer Tino Brandt, der später wegen sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Jungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Seine Unterstützungshandlungen für das untergetauchte Trio galten bereits als verjährt, als die Mord- und Anschlagsserie aus den Jahren 2000 bis 2007 dem NSU zugeordnet werden konnte. Im Zeugenstand des Münchner NSU-Prozesses trat Brandt als überzeugter Neonazi auf, wollte aber als V-Mann zumindest keine falschen Informationen geliefert haben.

Die Zusammenarbeit mit dem Thüringer Verfassungsschutz war aus seiner Sicht eine "Win-Win-Situation". Er sei davon ausgegangen, dass jeder in der Szene von seiner Nebentätigkeit gewusst habe, schließlich habe er immer Geld gehabt und damit auch politische Aktivitäten mitfinanziert.

Die Frage, "ob am NSU überhaupt Nicht-V-Leute teilgenommen haben"

Bereits 2012 hatte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung die Frage aufgeworfen, ob der Verfassungsschutz "nur überflüssig oder gefährlich" sei. 2013 sagte der Nebenklageanwalt Yavuz Narin bei einer Diskussionsveranstaltung zum NSU-Komplex: "Überspitzt formuliert stellt sich mir die Frage, ob am NSU überhaupt Nicht-V-Leute teilgenommen haben."

Narin vertrat im fünfjährigen Münchner NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer die Angehörigen des 2005 in München ermordeten Theodoros Boulgarides. Dessen Witwe Yvonne Boulgarides verglich 2018 in ihrem Plädoyer den Prozess mit einem "oberflächlichen Hausputz", bei dem viel Schmutz unter die Teppiche gekehrt worden sei.

Im Februar 2012 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einer Gedenkveranstaltung den Hinterbliebenen versprochen:

Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.

Angela Merkel

Dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst. Vielmehr lehnte die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess Beweisanträge der Nebenklage mit Geheimdienstbezug meist mit der Begründung ab, diese seien "nicht schuld- und strafrelevant" für die fünf Angeklagten. Vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen beriefen sich Verfassungsschutzzeugen in der Regel auf eingeschränkte Aussagegenehmigungen.

"Für eine vollständige Aufklärung des NSU-Terrors muss der Verfassungsschutz endlich alles offenlegen", forderte am Vorabend dieses zehnten Jahrestags die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) - eine der Politikerinnen, die in den vergangenen drei Jahren Morddrohungen mit der Unterschrift "NSU 2.0" erhalten hatten.

Dem inzwischen gefassten Tatverdächtigen konnte bisher keine direkte Verbindung zum Original-NSU nachgewiesen werden. Allerdings waren die Daten mancher Empfängerinnen dieser Drohschreiben in zeitlicher Nähe zu deren Versendung von hessischen Polizeicomputern aus abgerufen worden.