Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen

Wie Digitalisierung die Transparenz in Negative kehrt. Und welche Bereiche der Gesellschaft geschützt werden müssen. (Teil 2 und Schluss)

Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese digitalen Negativszenarien bereits tatsächlich ihren Ursprung in gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen und Tendenzen haben. Hierbei soll insbesondere der Fokus auf die gesellschaftliche Rolle der Transparenz sowie das Aufhalten in virtuellen Welten gelegt werden.

Transparenz kann für eine Demokratie insofern nützlich sein, als Entscheidungsprozesse für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und transparent werden, um sie zu befähigen und zu ermutigen, sich zu beteiligen. Dabei haben die Medien eine wichtige Funktion in der Demokratie. Eine freie und kontroverse Medienöffentlichkeit ist ein unverzichtbarer Baustein demokratischer Gesellschaftsordnungen.

Wenn aber das Maß an Transparenz, das ein Staat, die Behörden, für seine Bürgerinnen und Bürger bereitstellen, ein bestimmtes Ausmaß übersteigt, wenn absolute und einseitige Transparenz von oben nach unten als Kontrollsystem jeden Winkel des Lebens durchdringt, indem überwachende Maßnahmen die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger kontrollieren, dann führt die für die Menschen intransparente Transparenz zur totalen Kontrolle. Sie führt zur Zerstörung individueller Lebensspielräume und zwingt die Menschen zur totalitären Anpassung an vorgegebene Normen.

Dies stellt insbesondere ein Problem dar, wenn ein Staat demokratisch erodiert und autokratisch wird, wie dies derzeit beispielsweise in der Türkei der Fall ist. So wird zur gegenseitigen Bespitzelung aufgerufen, werden die sozialen Netzwerke auf regimefeindliche Aussagen durchsucht und wird beispielsweise das Instrument des "IMSI-Catcher" eingesetzt. Hierbei saugt die türkische Polizei die Identifikationsnummern eingeschalteter Handys von Demonstranten während einer oppositionellen Demonstration ab. Am nächsten Tag steht die Polizei vor der Tür und nimmt Verhaftungen vor.

Eines der illegalen Spionageprogramme, die von Geheimdiensten entwickelt und eingesetzt werden, ist Pegasus, das von der israelischen Firma NSO entwickelt wurde, ursprünglich zur Bespitzelung der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Pegasus erfordert keinen physischen Kontakt und kann heimlich auf Smartphones als Spionage-Software zur systematischen Überwachung von Bürgern installiert werden.

Die Verwendung von IMSI-Catcher, von WLAN-Catcher, stillen SMS, in Kombination mit Kontrollmaßnahmen im Rahmen des Funkzellenabfragens, die heimliche Installierung von Pegasus wird z.T. nicht nur in autokratischen Staaten gegen die politische Freiheit ihrer Bürger eingesetzt. Chinas "Social Credit System" stellt - wie beschrieben - eine weitere Variante totalitärer Transparenz dar.

Wenn digitale Kontrolle weltbeherrschend wird, z.B. auch unter Mithilfe von digitalen Imperien, wie z.B. Google oder Facebook, und hierbei auch noch eine maßgebliche Steuerung über digital verankerte künstliche Intelligenz dominiert, dann ist dies in dieser zweifachen Hinsicht deutlich entgegengesetzt zum demokratischen Anliegen und zur Durchsetzung bzw. dem Erhalt der Menschenrechte.

Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz, orientiert an ethisch begründeten Richtlinien und Kriterien des humanen Wesenskerns, stärker kontrolliert und reguliert werden sollte. Wenn Forscher beispielsweise bereits darüber nachdenken, das menschliche Gehirn auf eine Computer-Festplatte zu programmieren, mit der Begründung, die Erde sei ohnehin nicht mehr als längerfristiger Standort menschlicher Entwicklung geeignet, und nur die Digitalisierung des menschlichen Gehirns könne einen Transport auf ferne Galaxien gewährleisten, dann ist die Grenze des Zumutbaren sicherlich überschritten.

Auch die Frage nach dem Sich-Aufhalten in virtuellen Welten und der Frage, was in virtuellen Welten erlaubt sein darf und was nicht, ist breit zu diskutieren und in demokratischen Diskursen dringend zu klären.

Wenn Menschen über VR-Brillen1 zunehmend Erfahrungen in einer künstlichen Realität machen, dann ist danach zu fragen, welche Einfluss derartige Erfahrungen auf menschliche Persönlichkeiten und ihr Verhalten in der primären (echten) Welt haben. Auch die Kombination und Vermischung von primärer und sekundärer (virtueller) Realität müssten u.a. hinsichtlich der Folgen für die Gesundheit bzw. die Erkrankung von Menschen zuerst untersucht werden, bevor man entsprechende Medien und Software vertreibt und hier versucht Profite zu erzielen. Die Immersion, d.h. die psychische Einbindung in die virtuelle Welt, basiert auf der Illusion, dass eine tatsächliche Interaktivität zwischen dem Nutzer und den Ereignissen in der virtuellen Welt vorhanden ist.

Was aber, wenn die Einflüsse der virtuellen Erfahrung übermächtig werden? Wie verändert sich ein Mensch, wenn er sich täglich in vielen Stunden in virtuellen Welten aufhält und dort schießt, zusticht, hackt, zerteilt, foltert und Menschen zerfetzt? Was bedeutet es, wenn ein Mensch im Cyberspace gewaltpornografische Erfahrungen macht, vergewaltigt und tötet?

Menschen übernehmen im Cyberspace die Identität von Avataren. Was passiert psychisch mit einem solchen Menschen, der sich regelmäßig in einem Avatar aufhält? Welche Halluzinationen entstehen, wenn hier eine neue menschliche Erfahrungsebene vorhanden ist, bei der Robotik, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität zusammenwachsen?2 Was bedeuten solche Veränderungen in der Erfahrung des Einzelnen für soziale Gruppen und für die Gesellschaft, wenn sie zu einem Massenphänomen werden?

Destabilisierungsprozesse im Zuge von Erfahrungen zwischen realer und virtueller Welt wirken sich nicht nur negativ auf das Individuum aus, indem sie verunsichernde Emotionen aufkommen lassen, sondern können in gleicher Weise störende Auswirkungen auf die gesamte auf Mensch-Mensch-Beziehungen basierende soziale Architektur haben.

Wenn das "Metaverse" von Facebook sich durchsetzt, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Welt so an Bedeutung gewinnt, dass die reale Welt an Wertigkeit verliert. Dann werden auch gesellschaftliche Krisen und Katastrophen in der realen Welt aus der Sicht der Spielsüchtigen ihre Bedrohlichkeit verlieren - ist doch die Flucht in virtuelle Welten möglich, in denen in Echtzeit dank 5G und Blockchain gelebt werden kann.

Gesellschaftliche Lösungsperspektiven

Eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung wird für eine Neuordnung der Welt hinsichtlich der Nutzung virtueller Welten an Prinzipien des Humanismus orientierte, verbindliche Regeln aufstellen müssen, mit denen der Nutzungsrahmen für virtuelle Welten festgelegt werden muss. Die Menschheit kann es sich nicht erlauben, aufgrund des Profitstrebens von Konzernen, die mit virtuellen Kriegsspielen oder gewaltpornografischen Angeboten Geld verdienen wollen, sich ihre Monster selbst heranzuzüchten.

Es ist des Weiteren notwendig, alle lebenswichtigen Einrichtungen entweder aus der weltweiten digitalen Vernetzung herauszunehmen oder so abzusichern, dass kein digitaler Angriff von Außen möglich wird. Atomanlagen, nukleare Waffentechnik oder Verkehrssteuerung sind so zu isolieren und sicher zu machen, dass keine Hacker-Angriffe oder sogar sich verselbstständigende Algorithmen zu Katastrophen führen können.

Diese Problematik müsste weltweit, z.B. im Kontext der UN, gelöst werden. Den Nachteilen der digitalen Transformation der Arbeitsprozesse ist mit Qualifizierungsprozessen zu begegnen, andererseits sind nicht nur Nachteile in einer stärker und mit Augenmaß digitalisierten Welt zu sehen.

Harari (2019) sieht in der Substitution traditioneller Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz daher nicht nur Nachteile, sondern auch erhebliche Vorteile. Mehr als eine Million Menschen kämen jährlich durch menschenverschuldete Verkehrsunfälle (Fehlentscheidungen, Alkohol am Steuer) ums Leben. KI-gesteuerte selbstfahrende Autos würden Menschenleben verschonen. KI-Ärzte könnten über die Internetverbindungen allen Bereichen der Welt, auch ärmeren Regionen, eine ärztliche Gesundheitsversorgung bieten - so Harari3:

Dank lernender Algorithmen und biometrischer Sensoren könnte ein armer Dorfbewohner in einem unterentwickelten Land über ein Smartphone eine weit bessere ärztliche Versorgung erhalten, als der reichste Mensch heute im fortschrittlichsten Krankenhaus bekommt.

Hierbei wäre natürlich anzusprechen, wie wichtig der soziale Kontakt zwischen Arzt und Patient ist, und inwieweit eine digitale Therapie und medikamentöse Versorgung unter den Bedingungen von Armut möglich sind. Des Weiteren ist zu fragen, ob sich "ein armer Dorfbewohner" ein Smartphone leisten kann. Auch wird hier ausgeblendet, welche ethischen Probleme es bei selbstfahrenden Autos gibt (Entscheidungsdilemmata).

Einerseits gehen durch Maschinenlernen, Roboterisierung und KI Arbeitsplätze verloren, andererseits entsteht dennoch auch die Möglichkeit neuer qualifizierter Arbeitsplätze - so die Journalistin Adriane Palka4:

Das zeigen beispielsweise Zahlen aus den USA: Im Februar 2017 hatten 145,8 Millionen Menschen in den USA einen Job - 205 Prozent mehr als 1970, als Computer noch in den Kinderschuhen steckten. Die Bevölkerung ist im selben Zeitraum nur um 58,8 Prozent gewachsen. Zu einem ähnlichen Ergebnis für Deutschland kommt eine Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB): In einer bis 2035 voll digitalisierten Arbeitswelt könnten in Deutschland zwar fast 1,5 Millionen Jobs verloren gehen. Aber es würden auch ähnlich viele Arbeitsplätze neu entstehen.

Hierbei muss natürlich genau geprüft werden, welche Arbeitsplätze tatsächlich wegfallen könnten, da sie menschenunwürdig und gesundheitsschädlich sind, und durch intelligente Maschinen ersetzt werden sollten. Andererseits sollte nicht alles ersetzt werden, das substituierbar ist, wenn hier zufriedenstellende und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze ersetzt werden sollen, nur weil sie dadurch mehr Rendite abwerfen könnten.

In den letzten Jahren sind also vor allem mobile, kollaborative Roboter und selbstlernende Computerprogramme sowie erste Anwendungen von 3DDruck und Virtueller Realität so weiterentwickelt worden, dass immer mehr berufliche Tätigkeiten als potenziell ersetzbar eingestuft werden müssen. Gleichzeitig haben sich aber auch die Berufsbilder verändert. Weil automatisierbare Tätigkeiten von Robotern oder Computeralgorithmen erledigt werden können, müssen sie nicht mehr vom Menschen ausgeführt werden. Sie verlieren an Bedeutung oder sind für die Ausübung des Berufes nicht mehr relevant. In der Regel schlägt sich das darin nieder, dass eine bislang als Kerntätigkeit deklarierte Tätigkeit in Stellenausschreibungen oder Ausbildungsordnungen nicht mehr erwähnt wird oder für die Ausübung des Berufes nicht mehr als zentral gewertet wird. So werden 2016 Tätigkeiten wie "Modelle anfertigen" oder "Berechnen" seltener als Kernkompetenz beschrieben als noch 2013.

Katharina Dengler, Britta Matthes in Substituierbarkeitspotenziale von Berufen. Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt

Daher muss die Forderung gestellt werden, dass über KI automatisierte Arbeitsabläufe, die einen Arbeitsplatz ersetzen, mit einer Automatisierungs- bzw. Digitalsteuer belegt werden sollten, die einen ernstzunehmenden Anteil an dem durch die digitalisierte Automatisierung erzielten Mehrwert ausmacht. Mit dem hieraus resultierenden finanziellen Volumen sind Fort- und Weiterbildungen für Arbeitnehmer:innen zu finanzieren, die ihren Job aufgrund der Automatisierungstendenzen der Arbeitswelt 4.0 verloren haben. Dies dürfte für die Zukunft eine zentrale gewerkschaftliche Forderung sein, die es durchzusetzen gilt.

Die digitale Umwälzung der Arbeitsverhältnisse ist seit geraumer Zeit absehbar und wird auch noch einige Zeit benötigen. Daher bleibt genügend Zeit, hier - neben der Arbeitszeitverkürzung - über weitere Modelle für notwendige sozialpolitische Maßnahmen nachzudenken. Die Digitalsteuer, zu der auch eine Roboter-Steuer gehört, ist hier ein sinnvoller Vorschlag, der finanzierbar ist und nicht zu Lasten der Arbeitnehmer:innen geht.

Bei allen Maßnahmen einer digitalen Transformation der Arbeit sind die Vertreter der Arbeitnehmer:innen maßgeblich zu beteiligen, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, um zu verhindern, dass der Unternehmensprofit im Sinne des privatwirtschaftlich nutzbaren Mehrwerts den Prozess dominiert. Dies bedeutet dann auch, dass qualitativ hochwertige Arbeitsplätze nicht durch eine digitalisierte und vollautomatische Produktion zu ersetzen sind - auch wenn man dazu in der Lage wäre. Die Lebens- und Arbeitsqualität der arbeitenden Menschen muss Vorrang vor einer einseitigen Renditementalität haben.

Es ist allerdings nicht sicher, dass dies unter den gegenwärtigen systemischen Bedingungen leistbar ist.5 Ein vernünftiger Umgang mit der Digitalisierung wird davon abhängen, ob die zukünftige Gesellschaftsentwicklung sich den Spielarten eines neoliberalisierten Kapitalismus überlässt oder ob eine gesellschaftliche Neuordnung erreicht werden kann, bei der die Priorität des Renditedenkens und der eigenen Nutzenoptimierung zugunsten gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit verdrängt werden kann.6