Für eine Impfpflicht durch die Vordertür

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Ressentiment und Wissenschaftsfeindschaft sollten nicht länger unsere Freiheiten und das öffentliche Leben einschränken. Kommentar

Den Teufel spürt das Völkchen nie, Und wenn er sie bei’m Kragen hätte.

Goethe, Faust I, Vers 2182

Freiheit, also das Recht auf Selbstbestimmung in allen Bereichen ist der oberste Wert einer Gesellschaft, die von Humanität und Solidarität geprägt und nach demokratischen Prinzipien organisiert ist. Freiheit ist insbesondere die Freiheit vor staatlichen Einschränkungen. Gesetze und Maßnahmen der Gesetzgeber haben sich danach auszurichten.

Was heißt das im Konkreten? Bei einer Gesellschaft von über 80 Millionen Menschen muss es naturgemäß um individuelle Abwägungen und Interessensausgleich, auch um Schutz von Minderheiten und anderen Schutzbedürftigen - zum Beispiel Kindern, Behinderten, "Vulnerablen" - gehen. Es kann nicht darum gehen, die vollkommene Freiheit jedes Einzelnen zu Lasten aller anderen zu schützen. Sondern es geht um die Abwägung von Rechtsgütern und um das Funktionieren einer Gesellschaft als ganzer.

Das bedeutet: In der Praxis wird jede Gesellschaft die Freiheit der Individuen selbstbestimmt zu handeln einschränken. Das alles sind Binsenweisheiten, sie müssen aber zu Beginn dieses Textes in Erinnerung gerufen werden, um gewisse Missverständnisse auszuschließen.

Freiheit über alles?

Ebenfalls in Erinnerung rufen sollte man ein paar materielle Fakten: Über 97.000 Menschen sind in der Bundesrepublik Deutschland bislang an oder mit Corona verstorben. (Quelle auch für die weiteren Zahlen: Worldometer vom 9.11.2021). Knapp 4.400.000 Menschen gelten als genesen.

Nicht wenige von ihnen leiden unter den Folgen der Erkrankung, manche unter schweren Langzeitschäden. Diese werden ihr Leben auch in Zukunft zum Teil über Jahre einschränken und das Gesundheitssystem massiv belasten.

Schutz religiöser und weltanschaulicher Bedenken oder Leichtfertigkeit?

Dazu kommen weitere gut 300.000 "aktive Fälle". Damit liegt die Gesamtzahl nachgewiesener Corona-Erkrankungen bei knapp 4.800.000 Fällen, also etwa 5,7 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommt die größte Unbekannte unter den Corona-Zahlen: Die Schätzung der Dunkelziffer.

Von Beginn der Pandemie an gingen Forscher von einer sehr hohen Dunkelziffer aus: Die Zahl unerkannter Erkrankungen liegt damit bei mindestens klar über 50 Prozent und möglicherweise bei weit über 80 Prozent. Das bedeutet, dass mindestens 10 Prozent der deutschen Bevölkerung, womöglich bis zu 15 Prozent tatsächlich als von Corona "genesen" anzusehen sind. Sie gelten damit als weitgehend geschützt. Bleiben die übrigen 85 bis 90 Prozent.

Ihr Risiko überhaupt oder sogar schwer zu erkranken, gilt es zu begrenzen. Dies ist Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsschutzes. Zu diesem Teil der Bevölkerung gehören jene, die aus welchen Gründen auch immer nicht geschützt werden möchten. Dies ist ihr gutes Recht. Aus diesem Recht folgt allerdings nicht das Recht, andere Menschen gegen deren Willen zu infizieren, unabhängig davon, ob dies aus Leichtfertigkeit oder aus religiösen oder politischen oder sonstwie weltanschaulichen Gründen geschieht.

Die vierte Welle ist da

Weitere Fakten: Die vierte Corona-Welle ist da. Die Belastung der Krankenhäuser und ihrer Intensivstationen mit Corona-Patienten steigt deutlich. Sie liegt allerdings immer noch weit unter der Belastung im vergangenen Winter, die zu Spitzenzeiten etwa drei bis viermal so hoch lag wie jetzt. Diese deutlich geringere Belastung bei gleichzeitig höheren Inzidenzraten zeigt ebenso wie das weitaus geringere Auftreten schwerer Krankheitsverläufe und die erhebliche Reduzierung der Sterberate sehr deutlich, dass die Impfungen insgesamt wirken.

Es gibt zwar deutliche Unterschiede in der Wirkungskraft einzelner Impfstoffe, und ebenso kommt es zu Einzelfällen, in denen Impfungen nicht wirken oder in ihrer Wirkung sehr schnell sehr stark nachlassen. Diese sogenannten "Impfdurchbrüche" werden medial überproportional abgebildet ("bad news is good news"); der grundsätzliche Befund wird mit ihnen nicht widerlegt.

Weitere Fakten: Während die derzeitige Impfrate (Zahlen nach OurWorldInData in der Bundesrepublik bei klar unter 70 Prozent liegt, liegt sie in den allermeisten Industriestaaten der Welt ( Ausnahme USA), aber auch in Ländern wie Kuba, Chile und Kambodscha zum Teil deutlich höher. In Portugal und Kuba liegt sie sogar bei rund 90 Prozent. Die Corona-Erkrankungszahlen gehen relativ analog zu den Impfraten zurück. Auch daraus folgt: Die Impfungen wirken.

Nicht noch ein Lockdown

Die Frage einmal beiseitegelassen, wie viel Risiko eine Gesellschaft auf sich nehmen muss, kann oder darf, und inwiefern die bundesdeutsche Gesellschaft eine besonders Angst-getriebene und risikoaverse Gesellschaft ist, liegt die einzige realistische mögliche Alternative einer effizienten Pandemiebekämpfung in einem mehr oder weniger "harten" Lockdown. Diese wird bereits jetzt von manchen Gesundheitspolitiker sowie von dem üblichen Panikmachern in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern und anderen Medien gefordert, bzw. herbeigeredet.

Die deutliche Mehrheit der deutschen Bürger möchte einen solchen Lockdown nicht.

Zu einem neuen Lockdown werde es auch nicht kommen, heißt es derzeit von allen politischen Parteien. Ähnliches hatte der damalige Gesundheitsminister allerdings auch im Sommer 2020 erklärt. Die Folgen sind bekannt.

Mentale und psychologische Folgen der Diktaturen

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Sowohl das bisherige Verhalten der Covid-19-Viren und nachgewiesene Erkrankungs-Verläufe als auch die feststellbaren Wirkungen der Impfung zeigen, dass die Pandemie nicht von selbst an ihr Ende kommt, dass sie aber sehr wohl durch Impfungen zu besiegen ist.

Sowohl das Interesse Leib und Leben der Bevölkerung zu schützen als auch das öffentliche Interesse an einer möglichst geringen Einschränkung des öffentlichen Lebens, einer möglichst niedrigen Belastung des Gesundheitssystems und der öffentlichen Haushalte durch Pandemieeinschränkungs- und Bekämpfungsmaßnahmen verlangt eine möglichst hohe Durchimpfung der Bevölkerung.

Die traurige Erfahrung der vergangenen elf Monate seit Verfügbarkeit der ersten Impfstoffe belegt, das die Bereitschaft der Bevölkerung sich auf freiwilliger Basis impfen zu lassen, in Deutschland deutlich geringer ist als in anderen vergleichbaren Staaten.

Vieles spricht dafür, dass diese Mentalitätsdifferenz etwas mit den Diktaturerfahrungen im Deutschland des 20 Jahrhundert zu tun hat. Auch das unübersehbare Ost-West-Gefälle in der Impfbereitschaft zeigt, dass die spezifischen Diktaturerfahrungen der Deutschen mentale und psychologische Folgen haben. Schlicht gesagt haben die Deutschen vor allem im Osten mehr Misstrauen und Ressentiment gegenüber Staat, Wissenschaft, Medien und anderen Autoritäten, mehr Ressentiment auch gegenüber Mitmenschen die ihnen "hineinreden" wollen, mehr Angst vor vermeintlichen oder tatsächlichen Eingriffen in ihre Selbstbestimmung als die Menschen in den allermeisten anderen Staaten Europas, während sie bereit sind, sich der vermeintlichen naturwüchsigen Gewalt einer Pandemie zu unterwerfen. Es handelt sich hier um einen Defekt des kollektiven Bewusstseins, eine kollektive Pathologie, die man nicht beschönigen sollte.

Ungeachtet eines Verständnisses für diese Entwicklungen gibt es keinen Grund dafür, auf sie auch dort Rücksicht zu nehmen, wo sie der Gesamtgesellschaft schaden, und das öffentliche Leben erheblich in Mitleidenschaft ziehen.

Zutreffende Prognosen aus dem vergangenen Dezember

Da durch Überzeugungsarbeit der Ärzte und Wissenschaftler, durch Belege, Fakten und Aufklärungsprogramme zwar eine klare Mehrheit, aber doch nicht eine relevante Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen und für die Bereitschaft zur Impfung zu gewinnen ist, ist im Fall der Corona-Pandemie eine Impfpflicht unvermeidlich.

Bereits Anfang des Jahres hatte ich auch an dieser Stelle geschrieben, dass und warum eine Impfpflicht sein muss. Der Autor fühlt sich in den damals geäußerten Ansichten komplett bestätigt. Sowohl im Befund eines trägen, zögerlichen Vorgehens, des Verzichts auf das Setzen der wesentlichen Prioritäten aus Furcht der Regierenden vor der Fraktion der Impfverweigerer und aktiven Impfgegner sowie eines Ressentiments von Wohlstandsbürgern mit "First-World-Problems".

Ebenso mit der Feststellung, dass es eine "Impfpflicht durch die Hintertür" geben wird und man "im Sommer ... seine Immunität mit einem Immunitätsausweis oder ähnlichem nachweisen müssen [wird]. Im Flieger, in Gaststätten, bei Großveranstaltungen".

Ebenso in der Feststellung, dass eine aktive Impfpflicht am Ende ungeachtet aller gegenteiliger Aussagen ebenfalls kommen wird. Weil sie notwendig ist.

Dies alles ist zwar nicht überraschend für die von Selbstlähmung, Angst und Zweifeln bestimmten Zustände in Deutschland. Es ist aber ein eklatantes Politikversagen, sowie auch ein eklatantes gesellschaftliches Versagen, dass es bis heute gedauert hat, ohne dass es zu einer Impfpflicht gekommen ist.

Der Autor dieses Textes plädiert daher für Transparenz und Offenheit seitens der Behörden. Eine "Impfpflicht durch die Hintertür", etwa durch immer massivere Einschränkungen des Lebens der Nicht-Geimpften und durch immer mehr soziale Kontrolle und Überwachung - ob durch Corona-Apps und andere technische Einrichtungen oder durch Eingangskontrollen in den Geschäften, Gastronomiebetrieben, Transport- und Freizeiteinrichtungen - würde die Freiheit des Alltags und des öffentlichen Lebens erheblich stärker in Mitleidenschaft ziehen als eine Impfpflicht der gesamten, dafür medizinisch infrage kommenden Bevölkerung.

Umgekehrt würde eine Impfpflicht und einer Durchimpfung der Bevölkerung sehr schnell eine weitgehende Rückkehr zur Normalität und eines freien selbstbestimmten öffentlichen Lebens zur Folge haben.