Orientierungsleistung mangelhaft

Medienkritik zum Corona-Journalismus. Ein Resümee. (Teil 8 und Schluss)

In den vorangegangenen sieben Beiträgen wurden in dieser Serie Defizite der journalistischen Corona-Berichterstattung und Kommentierung aufgezeigt. Nichts davon ist neu, umso erstaunlicher ist allerdings das Vermögen, diese Defizite zu ignorieren, zu beschönigen, gar als Qualitätsleistung zu verkaufen.

Es ging hier nicht, wie leider im Forum immer wieder behauptet wurde, um eine bestimmte Position zur Corona-Politik. Defizite lassen sich an anderen Themen ebenso zeigen (und es gibt zahlreiche solcher Untersuchungen). Der Ansatz hier war die intensive Arbeit mit empirischem Material: von den 391 Links wies der größte Teil auf konkrete Merkwürdigkeiten oder Fehler in der Pandemie-Berichterstattung. Bei der Zuordnung zu Qualitätskriterien hat mancher Kommentator im Forum Redundanz bemängelt.

In der Tat greifen die vielen verschiedenen in der Fachdebatte verhandelten Qualitätskriterien ineinander, haben stets Überschneidungen mit anderen. Etwa 70 solcher Qualitätskriterien werden in der Journalistik verhandelt, für sechs davon habe ich hier in der Serie Beispiele auf Beitragsebene aufgezeigt.

Die vielen damit angesprochenen Probleme sind nicht überraschend. Sie sind im Gegenteil sogar erwartbar, und in der Summe dessen, was uns die Medienforschung schon alles an Verzerrungen herausgearbeitet hat, könnte man auch zuspitzen: guter Journalismus muss selten sein, er ist allenfalls unter besonderen Umständen zu erwarten.

In diesem Resümee will ich dies begründen, einige Thesen zu den Ursachen zur Diskussion stellen und Fragen an die Medienforschung formulieren. Es sei nochmals betont, dass es hier um Vollmedien geht, also Tageszeitungen, Wochenzeitungen, entsprechende Web- und Rundfunk-Angebote.

Es geht nicht um Fachmagazine, nicht um reine oder überwiegende Kommentar-Medien, es geht daher auch nicht um Telepolis. Ferner basieren alle Aussagen nur auf Fallbeispielen, also einer qualitativen, alles andere als zufälligen Stichprobe. Eine genauere Zusammenfassung der Kritik am Corona-Journalismus erfolgt nicht hier, sondern separat – und für den Mehrwert mit dem Bemühen um einfachere Sprache.

Die gesamte detaillierte Journalismuskritik der vorangegangenen sieben Teile lässt sich in einem Befund zusammenfassen: Die großen Vollmedien haben wesentliche Informationen nicht zur Verfügung gestellt, die zur Beurteilung der Corona-Pandemie und der sie managenden Politik nötig gewesen wären. Viele relevante, oft sogar sehr naheliegende Fragen sind medial nicht gestellt worden, entsprechend wurden Fakten einseitig bewertet, Geschehnisse und Entwicklungen unvollständig und/oder nicht-repräsentativ dargestellt. Damit war eine verantwortungsvolle Meinungsbildung schlicht nicht möglich.

Dass man sich zum Teil durch eigenes Bemühen notwendige Informationen beschaffen konnte, verkleinert das Problem nicht. Denn zum einen ist es genau die Aufgabe der Vollprogramme, ihren Kunden zu gesellschaftlich relevanten Vorgängen so umfassend Informationen anzubieten, dass eine sinnvolle Orientierung möglich ist.

Zum anderen sind mit der individuellen Informationsbeschaffung neue Probleme verbunden, die all die hier diskutierten Qualitätskriterien betreffen. Denn nackten Fakten fehlen Angebote zur Interpretation, und bei den solche ggf. anbietenden sog. Alternativmedien sind die gleichen Probleme zu erwarten (und in meinen Stichproben mannigfach zu finden).

Am "Überbeispiel" der Kosten-Nutzen-Rechnung sei das Fehlen notwendiger Informationen nochmal verdeutlicht. Die Pandemie-Politik kostet nach Schätzung der Regierung schon bisher mindestens 1,5 Billionen Euro. Das entspricht den gesamten Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden von zwei Jahren oder einem Jahr dieser Haushalte plus alle Sozialversicherungen.

Was die Politik entschieden hat, soll also so wertvoll sein wie alles, was in einem Jahr in Deutschland an öffentlichen Ausgaben getätigt wird, einschließlich der gesamten gesetzlichen Rentenzahlungen, aller Krankenkassen mit den gesetzlichen Pflegeleistungen. Alle Sozialleistungen, die Bildung vom Kindergarten bis zur Universität, Bau und Unterhalt von Straßen und öffentlichen Gebäuden, die Ausgaben von der Gerichtspflege bis zur Bepflanzung jedes Blumenkübels in der Fußgängerzone, was all das in einem Jahr kostet, ist genau so viel wert wie die Corona-Bekämpfung.

Zudem ist nie ausgehandelt worden, woher das Geld stammen soll, von wem also was bzw. wie viel wozu genommen wird. Es ist völlig ausgeschlossen, dass irgendjemand aufgrund der journalistischen Informationsangebote in den vergangenen 20 Monaten das Kosten-Nutzen-Verhältnis beurteilen kann, und vermutlich kann es auch kein Politiker, auf jeden Fall auch kein Pandemie-Experte. (Wenig verwunderlich, dass manche Ausgabe daher sogar verfassungswidrig war.)

Zu den Kosten für einen nie klar definierten Nutzen gehören u.a. auch die Gesundheitsbelastungen, insbesondere "Dritter", also der Menschen, die vor Corona nie geschützt werden mussten. Es war vom ersten Moment an klar, dass Kontaktverbote zahlreiche neue Probleme schaffen werden – aber die Medien haben sich nicht für Nebenwirkungen der von ihnen für richtig und alternativlos gehaltenen Maßnahmen interessiert. Auch hier: wo waren die Recherchen, deren Ergebnisse uns erst befähigt hätten, abwägen zu können?

Nun schlagen die Kinderärzte Alarm, wie es im üblichen Boulevardton bei Bild heißt, der Psychologe Pablo Kilian bezeichnet die Kontaktverbote als "soziale Triage".

Wo war dieser Alarm in den Medien vor dem ersten Lockdown? Oder was ist mit den Kosten für Tier und Natur? Als im November 2020 Dänemark begann, insgesamt 18 Millionen Nerze zu töten (und dann tagelang vor sich hin gammeln zu lassen), gab es keine Debatte ums Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Hätte es überhaupt irgendeine Grenze gegeben, oder hätte die Politik im Zweifel die komplette Flora und Fauna eingeebnet, um die Virusverbreitung einzudämmen? Schließlich sollte auch schon die Bundeswehr eingesetzt werden, mindestens 70 Prozent alle Wildschweine zu erschießen, um die für den Menschen ungefährliche Afrikanische Schweinepest nicht in die Hausschwein-Mastanlagen gelangen zu lassen.

Ein Jahr nach dem dänischen "Blutbad" kommen dann doch Fragen nach der Angemessenheit – zumindest der deutsche Journalismus ist damit reichlich spät, nach dem Motto: erst schießen, dann aufklären. Kosten und Nutzen wurden nie miteinander ins Verhältnis gesetzt (auch bei den "Alternativmedien" geschah dies nur selektiv, dort halt mit umgekehrtem Vorzeichen, also dem ausschließlichen Fokus auf negative Auswirkungen).

Indem wir dermaßen uninformiert und damit kopflos in ein riesiges Abenteuer gestürzt worden sind, ist dabei freilich kein Novum. Gerade diskutierten alle über das Fiasko der Afghanistan-Mission. Auch hier hätte der Journalismus all die Fragen schon vor 20 Jahren stellen können und unbedingt stellen müssen, deren Beantwortung heute nur noch Peinlichkeiten zutage fördern kann.

Was ist das Ziel der Mission? Was darf sie kosten, in Geld, in Toten, in Verletzten, in Kollateralschäden etc.? Und was erwarten wir dafür? Was sind Erfolgskriterien, an denen diese Kriegspolitik gemessen werden kann? Bis wann muss was erreicht sein? Welche Bewertungsmaßstäbe gibt es dafür? Wie sieht die Exit-Strategie für den Erfolgsfall aus, wie für den Fall des Scheiterns?

Es sind geradezu banal simple Fragen, die man sich vor einer solch weitreichenden Entscheidung stellen muss. Und all solche Fragen müssen in den Medien gestellt werden, auf all solche Fragen muss der Journalismus Antworten suchen.

Das mediale Entsetzen über die jetzige Situation zeigt deutlichst, dass der Journalismus sich damit nicht beschäftigt hat. Journalisten, die selbst einst stolze Kriegsdienstverweigerer waren, beschworen die militärische Rolle Deutschlands in der Welt, machten Hochachtung vor dem deutschen Militär zur Staatsräson, trieben mit ihren publizistischen Mitteln die Militarisierung des Alltags voran.

Ähnliches wird sich für alle weitreichenden Entscheidungen der Politik zeigen lassen, wenn auch nicht immer so flächendeckend, so gleichförmig wie beim Afghanistan-Einsatz und eben bei Corona. Den Klimawandel haben die meisten Medien auch reichlich spät entdeckt, auf naheliegende Fragen zu Kosten und Nutzen, zu Wirkungen und Nebenwirkungen wurde jahrzehntelang verzichtet (in den Regionalzeitungen der Kohlereviere zum Beispiel war jeder kritische Gedanke zum Bergbau tabu).

Die Digitalisierung schreitet fast diskussionslos voran wie eine Naturgewalt. Die tierquälerische Massentierhaltung wurde am Rande bei Corona-Tönnies thematisiert und rutscht ansonsten nun ab und zu auf dem Klimaticket in die Nachrichten, ist aber ansonsten außerhalb einzelner Reportagen für den Journalismus völlig irrelevant. Warum mit den Kosten beschäftigen, wenn einem der Nutzen zupass kommt?