Covid-19 und das Ende der Ratio

Die Pandemie geht ins dritte Jahr. Politik und Gesundheitssystem fahren an die Wand, Vertrauen schwindet, Umdenken bleibt aus. Der Faust'sche Wahn holt uns ein

Corona hat uns Grenzen gezeigt. Der Shutdown von Körper und Geist hat Spuren hinterlassen, die Bewältigungsmechanismen sind erschöpft. Das Vertrauen in die politischen und szientistischen Akteure ist arg strapaziert. Für viele wird aus der "Veränderungskrise" längst eine "traumatische Krise".

Vexierbilder der Ohnmacht

Unsere Selbstoptimierung erhielt einen Schlag. Wir sind unfreiwillig Darsteller in einem Um- und Abgewöhnungsdrama. Zivilisationsprozesse und -objekte zeigen sich in Bildern des Verfalls; die Medien beschwören den Abgrund voyeuristisch im abendlichen Schreckensritual am Beispiel entmenschlichter Körper auf Intensivstationen; bloßgelegtes Menschenmaterial, im Todeskampf an Apparate gekettet, die Gesichter obligat überpixelt.

Es sind Vexierbilder der Ohnmacht.

Die titanische Weltaneignung unserer modernen Zivilisation aber geriet durch das Virus nur vorübergehend ins Stocken. Goethes Faust und sein monumentales Ich stehen Modell. Der ruhelose Sucher Faust hat bis zum Ende seines Laufs seinen Weltverbrauch eben nicht abgelegt. Sein unbedingtes Streben führt uns zugleich einen korrumpierten Begriff von Arbeit vor Augen.

Fausts Problem besteht darin, dass er das Geräusch der Spaten (= die Stunde seines Todes) noch für Kolonisation hält. Während die Lemuren sein Grab schaufeln, schwärmt er vom Aufbruch in unerreichte Gefilde, wortwörtlich blind für seinen wahren Zustand.

FAUST (erblindet): Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten! Das Abgesteckte muß sogleich geraten.

(…)

Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! Es ist die Menge, die mir frönet, Die Erde mit sich selbst versöhnet (…).

MEPHISTOPHELES (halblaut): Man spricht, wie man mir Nachricht gab, Von keinem Graben, doch vom Grab.

Faust, Zweiter Teil, Fünfter Akt, Verse 11500 ff.

Ein passendes Bild auch für unsere Tage, in seltsamer Schwebe zwischen Wahnwitz und Vernunft, Leben und Tod, Sackgasse und Aufbruch? Was ist echt und zukunftsträchtig, was Ideologie und falsches Versprechen? Die Covid-19-Pandemie hat Umfragen zufolge die Erosion des Vertrauens seitens der Bevölkerung beschleunigt; das zielt hierzulande vorrangig auf Vertreter der politischen Elite.

Nach einer Statista-Umfrage gaben im Frühjahr 2021 rund 45 Prozent der Befragten in Deutschland an, der Regierung eher nicht zu vertrauen.

Weiter oben rangierende Pegel der Vertrauensskala ("viel" bzw. "sehr viel" Vertrauen) sanken Anfang November auf einen Tiefstand.

Im globalen Vergleich ist zu beobachten: Nicht nur der Glauben an die Kompetenz, sondern auch an die Integrität von Regierungen stehen auf dem Prüfstand.

Zukunftsvisionen sind oft wie die Handvoll Heu, die römische Landleute Ochs und Esel vorhielten, um sie arbeiten zu lassen, Manipel also.

Harry Pross, in: Das schöne, neue Leben. Hagen (ISL) 2001