Sind nur die Ungeimpften schuld?

Wie die Verengung der Debatte das Klima vergiftet und eine nachhaltige Pandemie-Politik zu verhindern droht. Die Telepolis-Wochenrückschau mit Ausblick

Mit fortlaufender Pandemie kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Debatte immer wirrer verläuft und die politischen Entscheidungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens immer willkürlicher getroffen werden.

Deutlich wird das mit Blick auf das Ringen um eine mögliche Corona-Impfpflicht. Die manische wirkende Fokussierung auf diese eine Säule der Pandemiepolitik verengt den Blick und verhindert eine notwendige Auseinandersetzung über parallele Strategien – auch über die aktuelle Krise hinaus.

Überlegen wir einmal: Weshalb sollen bislang nicht immunisierte Bürgerinnen und Bürger geimpft werden? "Deswegen richten sich ja Maßnahmen jetzt in der Einschränkung vor allem auch zum Schutz der Ungeimpften, wenn ich das so sagen darf", sagte der Bayerische Gesundheitsminister und Vorsitzende der Fachministerkonferenz, Klaus Holetschek (CSU) im Interview mit dem Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (hier ab 05:15 min.). "Ungeimpfte gefährden uns alle", sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, um für Impfungen zu werben.

Es ließen sich weitere Beispiele für solche eine widersprüchliche Kommunikation zur Frage anführen, ob die Immunisierungen und weiteren Maßnahmen zum Eigen- oder Fremdschutz notwendig sind.

Ein starkes Argument für eine Ausweitung der Impfkampagne ist die akute Lage auf den Intensivstationen. Die Zahlen des Intensivregisters Divi weisen auf eine erneute Überlastung hin. Diese Versorgungskrise könnte durch eine höhere Impfquote gesenkt werden, weil vollständig Geimpfte zunächst weniger Gefahr laufen, bei einer Covid-19-Erkrankung einen schweren Verlauf zu erleiden und dadurch "ITS-pflichtig" zu werden.

Allerdings ist nach einem Jahr Impfkampagne auch klar, dass die in der EU zugelassenen – und wahrscheinlich auch die übrigen weltweit eingesetzten – Vakzine nur für einen sehr begrenzten Zeitraum wirken.

Ja, es gibt auch in anderen Fällen Auffrischungsimpfungen. Die bei Corona-Vakzinen offenbar notwendige Frequenz dürfte aber alle Rekorde brechen und auf ein Impfabo hinauslaufen.

Wer muss auf die Intensivstation?

Bei der Frage der intensivmedizinischen Versorgung wird das Thema der Impfdurchbrüche in den höheren Alterskohorten weitgehend ignoriert. Zahlen des Divi belegen, dass knapp zwei Drittel der intensivmedizinisch versorgten Covid-19-Patienten über 60 Jahre alt sind. Sie sind aber laut RKI-Impfdashboard mit 85,4 Prozent zugleich aber die am besten durchgeimpfte Bevölkerungsgruppe.

Und schließlich darf, wer sich über die Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen redet, über die Gesundheits- und Budgetpolitik nicht schweigen. Das Divi wies Ende Oktober darauf hin, dass seit Jahresbeginn – also mitten in der Pandemie und bei zu erwartender erneuter Zuspitzung – 4.000 Intensivbetten weggefallen sind, weil das für ihren Betrieb notwendige Personal unter der schier unerträglichen Belastung das Handtuch geworfen hat; sie haben die Intensivpflege oder gar den Beruf verlassen.

Auch das ist ein Ergebnis der ministerialen "Konzertierten Aktion Pflege", der "Ausbildungsoffensive Pflege (2019-2023)" oder der "Pflegeoffensive" der scheidenden und auch in diesem Punkt gescheiterte Großen Koalition.

Tragen also nur die Ungeimpften Schuld an der Misere oder müssen wir unseren Blick erweitern? Bisher spricht wenig dafür, dass eine ehrliche und längst notwendige Bilanz des andauernden Pandemie-Politik-Desasters stattfindet. Stattdessen steigt auch im Netz der Druck auf Ungeimpfte, teils gepaart mit Gewaltfantasien, wie sich auch im Telepolis-Forum zeigt, wenn ein User etwa Zwangsimpfungen mit militärischer Unterstützung fordert. (Das Posting wurde inzwischen wegen Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen gesperrt.)

Wie sehr die vom Unvermögen der Verantwortlichen angeheizte Impfdebatte uns inzwischen (medizin-)ethisch in einer Sackgasse befördert hat, zeigt sich, wenn man die Argumentation weiterentwickelt.

Sollen künftig Menschen mit einem Body Mass Index unter 24 oder 25 zwangsernährt werden und alle darüber eine Magenverkleinerung verpasst bekommen? Werden Raucher mit einer COPD und Alkoholabhängige mit einer zirrhotischen Erkrankung in den kalten Entzug gezwungen?

Oder, um ein weniger polemisches Beispiel anzuführen: Werden wir bei schweren Grippewellen, die Krankenhäuser in der Vergangenheit schon öfter an und über ihre Belastungsgrenze gebracht haben, eine Impfpflicht ausrufen?

Bringt endlich Ordnung in die Pandemiepolitik!

Fakt ist zu Beginn der vierten Infektionswelle, dass die Diskussion um eine Einhegung der Pandemien endlich weiter gefasst werden muss. Durchhalteparolen wie die nach einer Impfquote von 75 Prozent (tagesschau.de) oder 85 Prozent (Spiegel) werden nur zu Enttäuschung und weiteren Verwerfungen führen.

Die künftige Bundesregierung steht in der Pflicht, eine längst überfällige und umfassende Pandemiepolitik zu entwickeln, die auch als Blaupause für künftige entsprechende Krisen dient. Denn mehr noch als das im Vergleich zu anderen weltweiten Pandemien relativ harmlose Corona-Virus muss das Versagen der Verantwortlichen Angst machen.

Bei der Entwicklung einer solchen Strategie muss auch die Frage auf der Tagesordnung stehen, was uns ein umfassender Gesundheitsschutz wert ist – und was die Arbeit der diejenigen, die ihn außerhalb des Arztberufes gewährleisten. Bisher offenbar nicht viel. Und keineswegs genug.

Zum anderen hat sich ein Jahr nach Beginn der Impfkampagne gezeigt, dass die Impfungen selbst einen Eigenschutz gewährleisten, mit Blick auf einen Fremd- oder gar Kollektivschutz aber keine nachhaltige Lösung bieten. Umso wichtiger sind Ansätze zur Erforschung von Covid-Medikamenten.

Und weil es nicht genug betont werden kann: Die Pandemiepolitik der Großen Koalition und der verantwortlichen Landesregierungen muss aufgearbeitet werden. Betreiber von Testzentren haben zu Recht kritisiert, dass die kostenfreien Schnelltests am 11. Oktober eingestellt wurden, um sie einen Monat später fast panisch wieder einzuführen.

Etwas falsch läuft auch, wenn von bundes- und landespolitischer Seite tagaus, tagein für sogenannte Booster-Impfungen geworben wird, die Lieferungen des Vakzins von Biontech/Pfizer vom zuständigen Minister aber gedeckelt werden (müssen). Was hat die Bundesregierung - auch in internationalen Organisationen - denn getan, um die Produktionskapazitäten zu gewährleisten oder gar zu steigern?

Diesen und anderen Fragen werden wir uns bei Telepolis, auch im Dialog mit Expertinnen und Experten, widmen.

Bleiben Sie also dabei und

Bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber