Babyn Jar: Wie gedenken?

Denkmal für die ermordeten Kinder von Babyn Jar. Bild: Сарапулов / CC-BY-SA-4.0

1941 wurden im ukrainischen Babyn Jar 33.711 Juden ermordet. Das Gedenken ist bis heute Gegenstand politischer Ränkespiele (Teil 3 und Schluss)

Babyn Jar, Ort, an dem während der zweijährigen deutschen Besatzung Kiews mehrere Zehntausend Menschen ermordet wurden: Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Kommunisten, Insassen des KZ Syrez, ukrainische Nationalisten, Sinti und Roma, Patienten einer Psychiatrie sowie Bewohner Kiews, die gegen teilweise absurde Verbote verstoßen hatten oder aus Rache für einen Sabotageakt erschossen wurden. Wie der verschiedenen Opfergruppen gedenken? Wie in Babyn Jar gedenken vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Ukraine und Russland?

Nach dem ersten Teil, der sich dem Massaker vom 29. und 30. September 1941 widmet, und dem zweiten Teil, der die Ermordungen in Babyn Jar in den beiden folgenden Besatzungsjahren darstellt, folgt nun der dritte und letzte Teil.

Die Schlucht lag zwischen drei Bezirken von Kiew: Lukjanowka, Kurenjowka und Syrez, umgeben von Friedhöfen, Wäldern und Gemüsegärten. Auf ihrem Grund floß schon immer ein hübscher sauberer Bach. (…) Der Bach hatte einen schönen grobkörnigen Sandboden. Aber jetzt war der Boden seltsamerweise mit lauter kleinen weißen Steinchen übersät.

Ich bückte mich und hob einen Stein auf, um ihn genauer anzusehen. Der Stein war ein verkohltes Stück Knochen von der Größe eines Fingernagels, auf der einen Seite weiß, auf der anderen schwarz. Der Bach wusch die Knochen irgendwo frei und trug sie mit sich fort.

So erinnert sich Anatoli Kusnezow in seinem autobiografischen Roman "Babij Jar", als er unmittelbar nach Kriegsende die Schlucht von Babyn Jar aufsuchte. Er ging den Bach entlang, bis er erkannte:

An einer Stelle wurde der Sand grau. Da begriffen wir, daß wir über menschliche Asche gingen.

Der Dichter Lev Ozerov, der selber Familienmitglieder in Babyn Jar verloren hatte, suchte den Ort des Massakers ebenfalls unmittelbar nach der Befreiung Kiews auf:

Ich sah einen Graben. Nicht alle Leichen waren verbrannt, nicht alle Knochen waren zu Staub zermahlen worden. Wir konnten nicht sprechen. Eine Szene wie bei Dante. Ein Gefühl von Katastrophe, Zerstörung lag in der Luft.

Sowjetische Opfer und das verordnete Schweigen

Nach der Befreiung Kiews nahm die "Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Aggressoren und ihrer Komplizen" ihre Arbeit auch dort auf. Ihr Bericht zu Babyn Jar wurde dann allerdings in Moskau umgeschrieben und jede Erwähnung der Juden im Text getilgt.

Während der Jahre 1941-43 hatte die sowjetische Regierung noch explizit von jüdischen Opfern gesprochen, nun aber verfolgte Stalin die Politik, dass es in dem multiethnischen Staat Sowjetunion nur sowjetische Opfer geben könne und keine einzelne Opfergruppe hervorgehoben werden dürfe.

Zum ersten Jahrestag des Massakers in Babyn Jar nach der Befreiung Kiews wollten einige Menschen eine Gedenkversammlung organisieren. Einer der Initiatoren der Trauerkundgebung war der Dichter David Hofstein, der sich später erinnerte:

Ich habe mich monatelang vorbereitet. Ich bereitete mich auf den Schock, auf das Leid vor. Monatelang unterdrückte ich den ersten Schrei, der in dem Augenblick aus mir herausbrechen sollte, in dem ich all das sehen würde, was ich bereits wusste: unser Unglück, unsere Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß.

Zur Gedenkveranstaltung kam es jedoch nicht, denn die sowjetische Regierung verkündete ein Verbot, weil die Veranstaltung ein Ausdruck "jüdischen Chauvinismus" sein und antisemitische Reaktionen hervorrufen könnte.

Im Januar 1946 fand dann in Kiew ein Prozess gegen sechzehn deutsche Angeklagte statt, denen die Beteiligung an Kriegsverbrechen in der Ukraine vorgeworfen wurde. Auch das Massaker von Babyn Jar war Gegenstand des Prozesses und Dina Pronicheva als Zeugin geladen.

Die offizielle Anklage erwähnte aber einmal mehr nicht das besondere Schicksal der Juden, sondern sprach von "mehr als vier Millionen Sowjetbürgern", die in der Ukraine unter der deutschen Besatzung ermordet worden waren. Babyn Jar sei das Grab von "195.000 Opfern des blutigen faschistischen Terrors". Auch der zwei Wochen später stattfinden Nürnberger Prozess erwähnt nur allgemein sowjetische Opfer.

Vergeblicher Kampf um öffentliches Gedenken

In den ersten Jahren nach Kriegsende arbeiteten der zuständige Volkskommissar und das Zentralkomitee der KP(b)U mehrere Resolutionen zur Errichtung eines Denkmals in Babyn Jar aus und stellten hierfür auch Mittel in Aussicht. Das Vorhaben wurde jedoch nie wirklich konkret weiterverfolgt.

In den letzten Jahren von Stalins Herrschaft war der Antisemitismus in der Sowjetunion ausgeprägt. Insbesondere auch aufgrund des erfundenen Komplotts, jüdische Ärzte hätten geplant, Stalin und andere Führer der Sowjetunion zu ermorden.

Vermutlich bewahrte Stalins Tod im März 1953 sowjetische Juden vor einer neuen Welle des Terrors. Aber auch Stalins Tod änderte nichts Grundlegendes an der Tatsache, dass es weiterhin keine Gedenkveranstaltung und auch kein Denkmal in Babyn Jar gab. Der Schriftsteller Anatoli Kusnezow erinnert sich:

Nach Stalins Tod kamen Stimmen auf, Babij Jar sei ja nicht nur ein jüdisches Grab, vielmehr seien dort drei- oder viermal so viele Russen und Vertreter anderer Nationalitäten begraben. Solche Argumente sind mir immer wahnwitzig erschienen: Demnach soll es heißen, daß die Errichtung eines Denkmals sich erst in dem Fall lohne, wenn bewiesen werde, daß ein gewisser Anteil überwiegt. Wie kann man überhaupt Prozente nachrechnen? In Babij Jar liegen MENSCHEN.

Schlamm auf die Toten

1958 wurden schließlich die Diskussionen um eine Gedenkveranstaltung und ein Denkmal auf eine sehr radikale Weise beendet. Die Kiewer Stadtverwaltung entschied, dass der flüssige Abraum einer nahegelegenen Tongrube in die Schlucht von Babyn Jar geleitet werden sollte. Dagegen wurde in der Öffentlichkeit heftig protestiert. So veröffentlichte etwa der Kiewer Schriftsteller Viktor Nekrassow im Oktober 1959 einen Artikel, in dem er fragte:

Wer ist auf die Idee gekommen, die Schlucht zuzuschütten und an der Stätte der größten Tragödie zu toben und Fußball zu spielen? Nein, das kann nicht erlaubt werden. Wenn ein Mensch stirbt, wird er begraben, und auf dem Grab wird ein Gedenkstein errichtet. Haben die 195.000 Kiewer, die in Babyn Yar, in Syrez, in Darniza, im St. Cyril-Krankenhaus, im Höhlenkloster und auf dem Lukianivka-Friedhof brutal erschossen wurden, diese Ehrung nicht verdient?

Aber der Protest von Nekrasov und vielen anderen verhallte. Der Verwaltungsentscheid wurde verwirklicht, wie Kusnezow anschaulich beschreibt:

So begann der zweite Versuch, Babij Jar aus der Geschichte zu streichen. (…) Quer durch Babij Jar wurde ein Damm gebaut. Dann ging man daran, über Rohre aus den benachbarten Steinbrüchen der Ziegelfabrik Pulpe in die Schlucht zu pumpen. Die Schlucht verwandelte sich in einen See. Pulpe ist ein Gemisch aus Wasser und Schlamm. Der Schlamm sollte sich ablagern, während das Wasser über Rinnen im Staudamm abfließen sollte - so war es gedacht.

Ich ging hin und blickte erschüttert auf diesen Schlammsee, der die Asche, die Knochen und das Geröll der Grabplatten verschlang. Das Wasser war faulgrün und unbeweglich. Tag und Nacht rauschten die Rohre, über die die Pulpe in den See floss. Das dauerte mehrere Jahre. Der Damm wurde ab und zu aufgeschüttet, er wurde größer und größer.

Anfang 1960 wurden der Hoffnung auf ein Denkmal in Babyn Jar ein definitives Ende bereitet, als das Zentralkomitee CPU der kommunistischen Partei in der Ukrainischen Sowjetrepublik und der Ministerrat der Ukrainischen Sowjetrepublik mit der Verabschiedung des Beschlusses "Über die Regelung von Angelegenheiten im Kontext des Baues von Denkmälern auf dem Gebiet der Ukrainischen SSR" offiziell seinen früheren, 1945 gefassten Beschluss über die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der Nazis in Babyn Jar aufhoben. Die Begründung: Dies würde erhebliche Ausgaben für Erosionsschutzmaßnahmen erfordern.