Inflation auf Rekordkurs

Wenn das Monatsende zur Horrorvision wird. Symbolbild: Chronomarchie auf Pixabay (Public Domain)

Die Enteignung von Normal- und Geringverdienern nimmt Fahrt auf. Armutsforscher nennt den Mythos, dass Reiche stärker betroffen seien, "perfide und paradox"

Experten waren angesichts der Inflations-Entwicklung davon ausgegangen, dass die offizielle Inflationsrate im November sogar auf fast sechs Prozent steigen könnte. Davor hatte unter anderem die Bundesbank vor einer Woche gewarnt. Allerdings hatte sie zuvor stets beschwichtigend von Inflationsraten von nur vier bis höchstens fünf Prozent bis zum Jahresende gesprochen.

Es kam, wenigstens offiziell, dann aber doch nicht ganz so schlimm, wie von der Bundesbank zuletzt befürchtet. In der Schnellschätzung ging das Statistische Bundesamt (Destatis) am Montag davon aus, dass die Inflation im Jahresvergleich im November um 5,2 Prozent angestiegen ist. Das ist aber trotz allem ein weiterer großer Schluck aus der Pulle, denn im Oktober waren das im Vergleich zum Vorjahresmonat noch 4,5 Prozent.

Da alle Angaben noch vorläufig sind, es bisweilen in den letzten Monaten Abweichungen nach oben gab, ist durchaus eine noch höhere Inflationsrate möglich. Wie von Telepolis längst erwartet, wurde also auch die Marke von fünf Prozent gerissen.

Damit ist die Inflation so hoch wie seit 29 Jahren nicht mehr. Ob auch die Marke von 6,3 Prozent gerissen wird, auf die die Rate mit der Ölkrise 1981 gestiegen war, kann nun immer weniger ausgeschlossen werden. Denn aus den Ölkrisen in den 1970er- und 1980er-Jahren ist bekannt, dass sich zum Beispiel steigende Energiepreise erst mittelfristig in steigenden Preisen für Güter und Dienstleistungen niederschlagen.

Interessant ist auch, wie sich die beiden von Destatis angegebenen Indizes auseinander bewegen. Im Oktober gab Destatis für den "Harmonisierten Verbraucherpreisindex" (HVPI) mit 4,6 Prozent fast den gleichen Wert wie für einen "Verbraucherpreisindex" (VPI) an. Im September waren beide Werte mit 4,1 Prozent sogar noch gleich. Im November aber geht die Schere, die sich im Oktober leicht geöffnet hatte, sehr deutlich auf.

Soll der VPI nun 5,2 Prozent betragen haben, ist der HVPI schon auf sechs Prozent geklettert. "Der HVPI wurde in der Europäischen Union (EU) entwickelt, um Preisänderungen international vergleichen und zu einer Gesamtinflationsrate für Europa und der europäischen Währungsunion zusammenfassen zu können", erklärt Destatis den Unterschied zwischen beiden Werten.

"Mittelfristig": ein dehnbarer Begriff

Auch dadurch wird deutlich, dass sich Europäische Zentralbank (EZB) immer weiter vom ohnehin im Sommer vorsorglich ausgeweiteten Inflationsziel entfernt. "Aus Sicht der EZB kann Preisstabilität am besten gewährleistet werden, wenn mittelfristig ein Inflationsziel - gemessen an der HVPI-Teuerungsrate - von zwei Prozent angestrebt wird", erklärt Destatis. Der Begriff "mittelfristig" ist allerdings ein sehr dehnbarer Begriff.

Obwohl auch die Geldpolitik der EZB mit einer weiteren Flutung der Geldmärkte in der Corona-Krise dazu geführt hat, dass man nun schon um den Faktor Drei über der angestrebten Zielmarke liegt, will die EZB-Chefin Christine Lagarde an Null- und Negativzinsen und den umstrittenen Anleihekäufen nichts ändern. Dabei musste "Madame Inflation", wie sie inzwischen genannt wird, längst auch offiziell einräumen, dass sie mit ihren Prognosen falsch lag. Es ist deshalb auch mit großer Vorsicht zu genießen, dass Lagarde von einer Abschwächung der Inflation im nächsten Jahr ausgeht.

Der Trend ist derzeit anders. Inflationstreibend wirken nach Angaben von Destatis in Deutschland vor allem gestiegene Energiepreise, die nun 22,1 Prozent über dem Vorjahresmonat liegen sollen. Im Oktober waren es noch 18,6 Prozent. Nahrungsmittel sollen sich dagegen nur um 4,5 Prozent verteuert haben. "Die hohen Inflationsraten seit Juli 2021 haben eine Reihe von Gründen, darunter Basiseffekte durch niedrige Preise im Jahr 2020", erklärt Destatis.

"Hier wirken sich insbesondere die temporäre Senkung der Mehrwertsteuersätze und der Preisverfall der Mineralölprodukte erhöhend auf die Gesamtteuerung aus", wird weiter eine zweifelhafte Begründung bemüht.

Tatsächlich lässt sich die anhaltend hohe Inflation nun kaum noch mit der Wiederanhebung der Mehrwertsteuer begründen. Die Inflationsentwicklung ist längst nachhaltig und hat mit der Mehrwertsteuer nur noch wenig zu tun. Doch mit der Mehrwertsteuer-Begründung wartet Destatis seit dem Sommer auf. Wieder angehobene "Mehrwertsteuersätze für fast alle Waren und Dienstleistungen" werden als Grund für den Inflationsschub angeführt.

Inflation in Spanien noch höher - trotz unveränderter Mehrwertsteuer

Der Effekt wird aber immer schwächer. Tatsächlich weisen Länder in der Eurozone sogar eine noch höhere Inflation aus, wie Spanien gerade mit 5,6 Prozent. Dabei gab es gar keine Absenkung und Wiederanhebung der Mehrwertsteuer in der Corona-Krise.

Das weist auf ganz andere Gründe hin. Erstaunlicherweise geht bei den spanischen Statistikern auch der VPI und der HVPI nicht wie in Deutschland auseinander, sondern ist genau gleich hoch.

Die Argumentation von Destatis ist allerdings nun etwas differenzierter geworden. Wurde schon bisher neben den üblichen Marktentwicklungen die Einführung der CO2-Bepreisung seit Januar 2021 angeführt, so spricht Destatis nun auch von "krisenbedingten Effekten", wie den "deutlichen Preisanstiegen auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen".

Denn die Erzeugerpreise sind im Oktober gegenüber dem Vorjahresmonat sogar um 18,4 Prozent explodiert. Die Preise von Importgütern sogar mit 21,7 Prozent noch stärker. "Eine ähnlich hohe Vorjahresveränderung hatte es zuletzt im Januar 1980 im Rahmen der zweiten Ölpreiskrise gegeben (plus 21,8 Prozent, gegenüber Januar 1979)", zog auch Destatis die Parallele zur Ölkrise.

Deshalb warnen die Statistiker in Wiesbaden, dass sich diese Preisanstiege "vorerst nur teilweise und abgeschwächt im Verbraucherpreisindex und in der Inflationsrate niederschlagen." Damit ist klar, dass auch die Destatis-Experten keine Entspannung an der Inflationsfront sehen.

Die Frage ist, was die Statistiker unter krisenbedingten Effekten verstehen, die sie nicht näher ausführen. Sind damit nur die Probleme in den Lieferketten und die Lieferengpässe gemeint, weshalb längst vor einer Stagflation gewarnt wird? Kritisiert Destatis etwa die extreme Ausweitung der Geldmengen durch die Lagarde-EZB? Offen angesprochen wird das jedenfalls nicht.

Dass die Geldmärkte vor allem im Euroraum seit der Finanzkrise ab 2008 praktisch ohne Unterlass geflutet werden, seit der Covid-Krise aber wieder besonders stark, muss sich über kurz oder lang inflationstreibend auswirken, zumal auch andere Notenbanken wie die US-Notenbank (FED) nach einer zwischenzeitlichen Normalisierung wieder in die ultralockere Geldpolitik eingestiegen sind. Die Kritik an der Politik wird deshalb auch immer stärker. Sie spiegelte sich auch im Abgang von Bundesbank-Chef und EZB-Ratsmitglied Jens Weidmann wider.

Umverteilung von unten nach oben nimmt Fahrt auf

Klar ist eigentlich, dass mit einer solch hohen Inflation die Umverteilung von unten nach oben an Fahrt aufnimmt. Vor allem Menschen mit geringem Einkommen müssen einen besonders großen Anteil ihres Einkommens für Energie oder Nahrungsmittel ausgeben. Hier fällt auf, dass die spanischen Statistiker zum Beispiel besonders die steigenden Nahrungsmittelpreise und in geringerem Umfang steigende Spritpreise als Inflationstreiber anführen.

Und die INE-Statistiker in Madrid machen sogar eine steigende Kerninflation aus, bei der Energieprodukte und unverarbeitete Lebensmittel herausgerechnet wurden. Die ist in Spanien auf 1,7 Prozent gestiegen, in Belgien zum Beispiel sogar schon auf gut 2,1 Prozent.

Zuletzt hatte sich eine recht eigentümliche Debatte in Deutschland entwickelt, wonach die steigende Inflation angeblich sogar die Reichen stärker als die Armen belastet. Mit dieser Einschätzung hatte das Münchner Ifo-Institut aufgewartet. So habe die Teuerung im Oktober für Haushalte mit einem Nettoeinkommen von 1.300 bis 1.700 Euro bei 4,4 Prozent gelegen, in den Einkommensklassen von 1.700 bis 5.000 Euro allerdings bei 4,6 Prozent.

"Im Vergleich zum Jahr 2019 müssen die ärmsten Haushalte derzeit 19 Euro und die reichsten Haushalte 111 Euro mehr pro Monat für ihren jeweiligen Warenkorb ausgeben, weil die Preise stärker stiegen als im Durchschnitt der Jahre vor der Coronakrise", behauptete das Institut. Diese Berechnung ist schon deshalb zweifelhaft, weil sie auf dem ohnehin sehr fragwürdigen Warenkorb basiert, der auch zur Berechnung der offiziellen Inflation herangezogen wird.

Real ist für Menschen mit geringem Einkommen die Inflation nämlich längst deutlich höher, als die nun ermittelten 5,2 Prozent. Zudem können Menschen, die ein Einkommen von 1.300 bis 1.700 haben, nicht zum Beispiel von steigenden Aktienkursen profitieren, weil sie kaum Möglichkeiten zum Sparen oder zum Anlegen des Gesparten in Aktien haben.

So hat auch der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge der Einschätzung des Ifo-Instituts massiv widersprochen. "Ich finde es perfide und paradox, wenn man Reiche zu Opfern der Inflation erklärt", so der Professor für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Butterwegge erklärte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, Arme, Gering‑ und Normalverdiener litten besonders unter den hohen Preisen.

"Es ist ein häufiger Fehler, dass Arme und Reiche nur über das Einkommen zueinander in Beziehung gesetzt werden", weist er auf methodische Fehler beim Ifo-Institut hin. Entscheidender für die soziale Ungleichheit sei nämlich das Vermögen. Arme hätten schlichtweg keines, ihr geringes Einkommen gehe vollständig für Lebensmittel, Miete und Heizen drauf. Auch für Butterwegge beschleunigt deshalb die hohe Inflation eine seit 15 Jahren andauernde Entwicklung, mit der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht: "Die Bezieher von Hartz IV sind, gemessen am mittleren Einkommen in Deutschland, immer ärmer geworden."

Dabei sei auch zu bedenken, dass Erwerbslose unter den stark gestiegenen Energiepreisen besonders litten, weil sie häufig zu Hause seien und mehr heizen müssten. Die Ifo-These sei geradezu makaber, erklärt der Autor des Buches "Armut in Deutschland". "Wer mehr als 5.000 Euro netto im Monat verdient, den bringt es nicht um, wenn seine Lebenshaltungskosten um 4,8 Prozent steigen." Stattdessen kämen Menschen mit einem Einkommen von nur 1.300 Euro netto bei einer solch hohen Inflation schnell an alle Grenzen.

Auch der Mittelstand wird schleichend enteignet

Da es derzeit praktisch keine Sparzinsen gibt, sogar zum Teil schon Negativzinsen von Banken und Sparkassen für Einlagen von Sparern - das ist ein entscheidender Unterschied zu anderen Phasen mit relativ hoher Inflation - und zudem Geldinstitute hohe Gebühren kassieren, wird sogar längst der Mittelstand schleichend enteignet. Das geht mit Inflationsraten bei Null- und Negativzinsen wie momentan sogar relativ schnell.

Greift die Lagarde-EZB angesichts der weiter steigenden Inflation nicht schnell ein, dann ist auch geklärt, dass man es mit einer gezielten Politik zu tun hat. Die zielt dann auch darauf ab, einen Teil der Schulden, von immer höher verschuldeten Staaten, über die hohe Inflation zu beseitigen.

Klar ist aber auch, dass die Gefahr von Zweitrundeneffekte wächst und damit die Gefahr einer langandauernden Inflation. In Belgien ist das zum Beispiel längst der Fall. Dort müssen die Unternehmen Löhne und Gehälter automatisch an gestiegene Lebenshaltungskosten anpassen. "Die belgischen Unternehmen werden in einigen Monaten die Löhne um 4,5 bis 5 Prozent erhöhen müssen, während man im Rahmen des Lohngesetzes für den Zeitraum 2021-2022 nur mit einer Erhöhung von 2,8 Prozent gerechnet hatte", sagt Chefökonom Edward Roosens vom Verband der belgischen Unternehmen.

In Österreich haben die Metaller zum Beispiel gerade eine Lohnerhöhung um gut 3,5 Prozent durchgesetzt, womit sie aber trotz allem erneut Kaufkraftverluste erleiden. Anders sieht es bisher noch in Deutschland aus. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst erhalten zwar nun 2,8 Prozent mehr Lohn, doch das gleicht nur etwa die Hälfte der offiziellen Inflation aus. Kaufkraftverlust wirkt sich aber wiederum dämpfend auf die Konjunktur aus, womit man der gefährlichen Stagflation noch näher kommt.

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