"Absolut letztes Mittel"

Die Erhöhung der Impfquote gilt als zentrales Mittel zur Lösung der gegenwärtigen Krise. Aber ist die allgemeine Impfpflicht "geeignet, erforderlich und angemessen"?

Nachdem der erste Teil der Artikelserie (Corona-Pandemie: Wut, Spaltung und offene Fragen) hauptsächlich den aggressiven Ton und die vielerorts geforderte Spaltung der Gesellschaft untersuchte, hatte der zweite Teil die begrenzte Datensicherheit und das Paradox zum Thema, mittelfristige Lösungen bei einem kurzfristigen Problem zum Kern der Regierungspolitik zu machen: Blindflug und ein fragwürdiges Narrativ.

Im folgenden dritten Teil soll es nun konkreter um die allgemeine Impfpflicht gehen. Zweifelsohne kristallisiert sich bei der aktuellen Diskussion eine extreme Spaltung des Landes heraus, die sich bei einer gesetzlichen Einführung noch deutlich weiter verschärfen dürfte.

Höhere Impfquote als Befreiung?

Eine möglichst hohe Impfquote ist bei der Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht das zentrale Argument. Es ist sicherlich richtig, dass eine Erhöhung der Impfquote (gerade bei den Risikogruppen) die Anzahl der Menschen, die einen schweren Krankheitsverlauf haben, mittelfristig reduzieren dürfte.

Angesichts der Forderungen, die politisch damit verbunden werden, stellt sich aber die Frage, ob eine Erhöhung der Impfquote grundsätzlich das Problem löst und dies auch nachhaltig. Der Internist Matthias Schrappe mahnte hierzu auf Telepolis:

Impfung ist gut, aber die ausschließliche Konzentration auf die Impfung als einzige gezielte Präventionsmaßnahme ist ein Armutszeugnis. Die vor der Impfkampagne fehlende Fokussierung auf die vulnerablen Gruppen, insbesondere die Älteren, ist uns ja bei Beginn der Impfkampagne sofort auf die Füße gefallen.

Matthias Schrappe

Inwiefern eine hohe Impfquote grundsätzlich das entscheidende Merkmal eines erfolgreichen Kampfes gegen Sars-CoV-2 darstellt, ist tatsächlich weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. So konnte eine Studie, die im European Journal for Epidemiology erschien, keinen Zusammenhang zwischen Impfquote und Infektionsverlauf feststellen.

Davon unabhängig sollte auch ein Blick auf andere Länder Grund zum Zweifeln geben, ob eine eindimensionale Politik, die sich fast ausschließlich um die Erhöhung der Impfquote kümmert, wirklich zielführend ist.

So zeigt sich beispielsweise derzeit in Spanien und Portugal, die sehr hohe Impfquoten haben und als Vorbild galten, dass die Infektionszahlen dort nun auch deutlich nach oben gehen.

Auch Großbritannien und Dänemark haben hohe Impfquoten. Dennoch steigen dort rasant die Zahlen der Infizierten mit der Omikron-Variante.

Drei gute Gründe

Nichtsdestotrotz scheint die deutsche Politik auch bei nun wieder fallenden Infektionszahlen fast nur eine Lösung der Krise zu kennen: die allgemeine Impfpflicht. Es gibt allerdings auch ganz grundsätzliche Gründe, die gegen die Impfpflicht (wohlgemerkt: nicht gegen die Impfung) sprechen. Prof. Alexander Kekulé gibt zu bedenken:

In Momenten größter Ratlosigkeit ist der Mensch besonders anfällig für falsche Heilsversprechen. Das gilt für todgeweihte Kranke genauso wie für Politiker, die vieles falsch gemacht haben und nun zusehen müssen, wie eine nicht mehr aufzuhaltende Infektionswelle die Intensivstationen überrollt. (…) Die allgemeine Impfpflicht ist jedoch das falsche Mittel zum falschen Zeitpunkt, und zwar aus drei Gründen.

Alexander Kekulé

Seine Begründungen erscheinen ausgesprochen wichtig und verdienen ausführlich in ihrem Gedankengang wieder gegeben zu werden.:

1. Für die Impfpflicht sind es nicht die richtigen Impfstoffe Die Impfstoffe (...) wurden (...) gegen den ursprünglichen Wuhan-Typ des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 entwickelt. Die Hersteller haben sie, entgegen anfänglicher Versprechungen, bislang nicht an die Delta-Variante angepasst.

Bei Delta ist die Schutzwirkung vor schwerer Erkrankung vermindert, weswegen in der besonders gefährdeten Altersgruppe ab 60 Jahren derzeit etwa die Hälfte der Intensivpatienten vollständig geimpft ist. Dieser Anteil steigt sogar schneller als die Impfquote, was darauf hindeutet, dass sich Geimpfte in falscher Sicherheit wiegen und auf 2G-Veranstaltungen ohne Schutzmaßnahmen einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind.

Unbeantwortet ist auch die Frage, nach welchem Zeitraum der Impfschutz soweit nachgelassen hat, dass eine Auffrischungsimpfung verpflichtend werden müsste. Während über 70-Jährige wahrscheinlich bereits wenige Wochen nach der zweiten Impfung von der Boosterung profitieren, könnten Menschen unter 40 auch zwei Jahre oder länger vor schweren Verläufen geschützt sein.

(…) Bis die Impfpflicht greift, hätten wir es zudem wahrscheinlich mit neuen Varianten zu tun (Omikron ist nur ein möglicher Kandidat hierfür), die sich von den derzeitigen Impfstoffen noch weniger beeindrucken lassen. Ob dann angepasste Vakzinen verfügbar sind, wie gut sie vor der Weitergabe des Erregers schützen und ob ihre Wirkung eine Impfpflicht rechtfertigt, lässt sich heute noch nicht absehen.

Der mangelhafte Schutz gegen Delta soll nun durch weitere Dosen derselben Impfstoffe kompensiert werden. Ob dadurch die Ansteckungsfähigkeit so stark vermindert werden kann, dass es zu einer deutlichen Reduktion der Neuinfektionen kommt, ist jedoch unklar.

Alexander Kekulé

Daher lautet die erste Schlussfolgerung von Kekulé:

"Das mit der Impfpflicht verfolgte Ziel, die Krankenhäuser in künftigen Infektionswellen vor Überlastung zu schützen, ist mit den aktuellen Vakzinen wahrscheinlich nicht erreichbar."

Kekulés zweite Begründung lautet: "Viele Ungeimpfte haben irrationale Ängste". Auch wenn Kekulé ausdrücklich von der Sicherheit der mRNA-Impfstoffe überzeugt ist, betont er:

Allerdings kann kein seriöser Wissenschaftler ausschließen, dass in Zukunft Nebeneffekte entdeckt werden, die mit den heutigen Kenntnissen über das Immunsystem und seine Entwicklung in der Kindheit nicht vorhersehbar waren. Zwar wird es wohl kaum einen Virologen geben, der sich aufgrund solcher Spekulationen von der Impfung abhalten lässt. Aber nicht jeder denkt wie ein Virologe und wenn es um die Gesundheit geht, sind viele Entscheidungen irrational. Wer aufgrund solcher unknown unknowns Angst vor der Impfung mit mRNA-Wirkstoffen hat, darf nicht dazu verpflichtet werden. Dies gilt umso mehr, zumal in Kürze auch konventionelle Vakzinen (Ganzvirus- beziehungsweise Proteinimpfstoffe) verfügbar sein werden.

Alexander Kekulé

Prof. Kekulés drittes Argument gegen eine allgemeine Impfpflicht ist vermutlich das Wichtigste: "Es gibt für eine allgemeine Impfpflicht weder eine medizinische noch eine epidemiologische Begründung." Kekulé begründet dies:

"Um das Recht auf Schädigung der eigenen Gesundheit einzuschränken, bedürfte es einer außerordentlich dringenden und allgemein zutreffenden medizinischen Begründung.

Diese gibt es jedoch bereits deshalb nicht, weil das Risiko schwerer Covid-Erkrankungen sehr unterschiedlich verteilt ist. Während bei Alten, Übergewichtigen und Menschen mit besonderen Grunderkrankungen vielleicht noch die außergewöhnliche Dringlichkeit der Impfung begründbar wäre, unterscheidet sich die Gefahr für junge und gesunde Menschen sowie für bereits von Covid Genesene nicht grundsätzlich von anderen Gesundheitsrisiken."

Prof. Klaus Stöhr, Virologe und Epidemiologe und ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms und Sars-Forschungskoordinator, antwortete ebenfalls sehr klar auf die Frage, ob er eine allgemeine Impfpflicht befürworte:

Nein, die befürworte ich nicht. Allgemeine Impfpflicht würde bedeuten, dass alle sich impfen lassen müssten. Das würde die Grundfesten der Pandemiebekämpfung, nämlich dort anzusetzen, wo die Krankheit am größten ist, nicht berücksichtigen. Ja, für die über 60-jährigen wäre sicher ein hoher Impfanreiz sehr wichtig. Dort liegt die Krankheitslast. Über 95 Prozent der Menschen, die sterben sind über 60 Jahre alt. (…) Aber warum soll ich ein Jugendlicher unbedingt impfen lassen, wenn die Auswirkungen der Erkrankung überschaubar sind? Und vor allen Dingen, man kann nicht davon ausgehen, dass tatsächlich das Impfen der Jüngeren dazu führt, dass die Krankheitslast in den Alten- und Pflegeheimen abnimmt.

Klaus Stöhr

"Geeignet, erforderlich und angemessen"

Die allgemeine Impfpflicht ist insbesondere auch eine juristische Frage, da sie eindeutig einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) darstellt. Nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags wäre der Grundrechtseingriff durch eine Impfpflicht nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Regelung verhältnismäßig wäre, "mit ihr also ein legitimes Ziel verfolgt würde und sie ferner geeignet, erforderlich und angemessen wäre".

Angesichts der in Österreich angekündigten Impfpflicht mahnte auch Elizabeth Throssell, Sprecherin des Büros der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR):

Die Maßnahme muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem auf dem Spiel stehenden Interesse stehen, sie muss verhältnismäßig sein, um ihr Ziel zu erreichen, und sie sollte die am wenigsten einschneidende Option unter den möglichen sein. Und das ist ein wirklich wichtiger letzter Punkt: "nicht diskriminierend".

Elizabeth Throssell

Einen Schritt weiter geht die Weltgesundheitsorganisation. WHO-Regionaldirektor für Europa Hans Kluge erklärt ausdrücklich, Impfpflicht sei "ein absolut letztes Mittel und nur anzuwenden, wenn alle anderen machbaren Optionen zur Verbesserung der Impfaktivität ausgeschöpft wurden".

Zielsuche

Gerade im Hinblick auf die aufgeworfene verfassungsrechtliche Begründung einer allgemeinen Impfpflicht muss die Frage zwingend gestellt und beantwortet werden, was das Ziel der Corona-Politik genau ist. So offensichtlich die Frage ist, so wenig offensichtlich erscheint die Antwort. Ist das Ziel, das Virus auszurotten? Besteht das Ziel darin, die Zahl der Infektionen möglichst gering zu halten? Geht es darum, die Zahl der Toten möglichst zu reduzieren? Oder lautet das Ziel, das Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen?

Das erste Ziel ist wahlweise utopisch oder naiv. Es sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass eine Zero-Covid-Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Wenn das Ziel der dauerhaft möglichst geringen Anzahl an Infektionen von dem ersten Ziel substantiell sich unterscheiden soll, erscheint dies – wie in anderen Ländern beobachtbar – auch mithilfe einer allgemeinen Impflicht nicht erreichbar.

Wenn das Ziel in der Reduzierung der Toten besteht, dann ist das Impfangebot insbesondere an die Menschen, die den Risikogruppen angehören, extrem wichtig und zielführend. Die allgemeine Impfpflicht schießt aber über dieses Ziel hinaus, denn die Wahrscheinlichkeit unter 50 Jahren an Sars-CoV-2 zu versterben, ist ausgesprochen niedrig und bei der Gruppe der Jugendlichen verschwindend gering.

Da die allgemeine Impfpflicht zum Ziel der Verringerung der Krankenhausbelegung und der Stabilität des Gesundheitssystems führen würde, erscheint die allgemeine Impflicht hier wohl ein "geeignetes" Mittel zu sein. Ist die allgemeine Impfpflicht aber auch "erforderlich" und insbesondere "angemessen"?

Es sollte auf der Hand liegen, dass besonders Maßnahmen, die möglichst schnell die Anzahl der nutzbaren Betten auf den Intensivstationen wieder deutlich erhöhen, (also vor allem auf die Frage des Personalmangels eine überzeugende und durchdachte Antwort finden), jenseits des neoliberalen Strebens nach Effizienzsteigerung, "erforderlich" und "angemessen" sind.

Die zentralen Punkte dieser Lösung, die im Gegensatz zur allgemeinen Impflicht "angemessener" sind und eine kurzfristige Lösung darstellen, sind im zweiten Teils dieser Artikelserie bereits näher ausgeführt worden. Deutschland könnte, sollte und müsste daher dem Beispiel der Schweiz folgen und eine bessere Pflege in die Verfassung aufnehmen. Denn dies wäre die angemessene Lösung, die zielführend ist und die Gesellschaft nicht spaltet.