"Dein Obdach ist nicht hier"

Berlin, 2014. Bild: Sascha Kohlmann, CC BY-SA 2.0

Mindestens 678.000 Menschen gelten in Deutschland als wohnungslos, komplett auf der Straße leben mehr als 40.000. Über die Verlierer im Irgendwo der Wohlstandsgesellschaft

An die beklemmende Realität der "Working Poor" erinnerte dieser Tage schon Bernd Müller auf Telepolis. Viele, unter ihnen Alleinerziehende, sind trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen. Sie gehören zu den Abgehängten der "Wohlstandsgesellschaft".

Eine andere Gruppe von Verlierern kommt hauptsächlich immer dann ins Gespräch, wenn es Mord und Totschlag zu berichten gibt. Die Rede ist hier von den Obdachlosen.

Obdachlos oder wohnungslos?

Offizielle Zahlen gibt es nicht. Wieso eigentlich nicht? Die Angaben für Deutschland schwanken zwischen 350.000 und einer Million. Das hängt auch damit zusammen, wie man Obdachlosigkeit definiert: Ob jemand etwa tagsüber auf der Straße ist und nachts eine Hilfseinrichtung aufsucht, oder ob jemand Tag und Nacht auf der Straße zubringt, also auch draußen schläft

Als "obdachlos" gilt eine Person dann, wenn sie tatsächlich auf der Straße übernachtet, erklärt Straßensozialarbeiter Johan Graßhoff im Interview. Als "wohnungslos" gelten die, die zwar keine eigene Wohnung haben, aber dennoch einen Schlafplatz in einer Notunterkunft, im Frauenhaus oder einer ähnlichen Einrichtung finden.

Manche kommen auch bei Familien oder Freunden unter. Die aktuellsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) stammen aus dem Jahr 2018. Damals schätzte BAGW die Zahl der obdach- und wohnungslosen Menschen zusammen auf 680.000. Mehrere Zehntausend fristen ihr Dasein ohne jede Unterkunft auf der Straße. Mit der Pandemie dürften es noch mehr geworden sein.

Immer mehr Hass

Knapp gewordener Wohnraum und steigende Mieten sind ein krasser Teil der Zumutungen, die diese Gruppe besonders empfindlich trifft. Nicht kleinzubekommen ist offenbar darüber die Geringschätzung, unter der Obdachlose leiden. Da ist noch viel gesellschaftlicher Bodensatz, ein tief im Kollektiv verankerter Hang zur Ausgrenzung und Stigmatisierung, der sich regelmäßig in hasserfüllten Attacken einiger Verrückter entlädt.

Der Abgeordnete Markus Rinderspacher stellte eine Parlamentsanfrage für die SPD im Bayerischen Landtag und bezeichnete es Presseberichten zufolge als "erschreckend, dass sich die gesellschaftliche Abwertung von sozial ausgegrenzten Obdachlosen in immer mehr gewaltsamen Hassverbrechen bemerkbar" mache.

So etwas ruft üble Erinnerungen wach. Im NS-Staat wurden Tausende in Konzentrationslager verbracht; sie hießen "Arbeitsscheue" und "Asoziale", viele wurden zwangssterilisiert. Nicht zu arbeiten galt als "Parasitentum".

"Platte machen" – mit Blick auf Millionäre

In den drei Jahrzehnten nach der Wende wurde in vielen Ländern Mittel- bis Osteuropas der ehemals staatlich verwaltete Wohnsektor radikal und rapide zu einem freien Wohnungsmarkt umgebaut. Mit Folgen, die auf den Straßen deutscher Großstädte zu beobachten sind. Beispiel Hamburg.

Viele sind aus Polen, Bulgarien oder Rumänien auf der Suche nach Arbeit an die Elbe gekommen. Oft im Vertrauen auf die Versprechen windiger Arbeitsvermittler. Tatsächlich hat sich die Zahl der Obdachlosen vor allem durch Migrant:innen aus den genannten Ländern in den letzten Jahren in Hamburg auf geschätzt 2.000 etwa verdoppelt.

Wenn sie eine Arbeit verloren oder erst gar keine gefunden haben, ziehen sie ein Leben auf der Straße der Rückkehr vor, weil sie in der Heimat noch ärmer dran wären. Mittlerweile mach das Schlagwort von der "Obdachlosenmetropole Hamburg" die Runde.

Auf der Mönckebergstrasse, Hamburgs Prachtmeile, hat man als Obdachloser je nachdem ein Auskommen, und es gibt viele Stellen, die überdacht und relativ warm sind. Da kann man "Platte machen." Aber die Katastrophe lauert gleich nebenan.

Vier Kältetote gab es unter den Obdachlosen der Hansestadt innerhalb weniger Wochen im Winter 2018 auf 2019. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von der Elbphilharmonie mit ihrem integrierten, sündhaft teuren Wohnkomplex entfernt wurde an einem Morgen Mitte November eine 64 Jahre alte Frau tot aufgefunden: Die Kehrseite des obszönen Luxuslebens, das die Upperclass sich gönnt.

Am 3. Dezember 2018, wenige Wochen darauf, meldet das Hamburger Abendblatt den lukrativen Verkauf der letzten der 44 Luxuswohnungen im Prachtbau am Elbufer. Eine dieser Wohnungen stellte einen neuen Rekord auf, der Käufer bezahlte 11,07 Millionen Euro bzw. 38.588 Euro pro Quadratmeter.