Unterwegs zu einer deutschen Cancel Culture

Das Tocqueville-Paradox: Wie dysfunktional Medien heute mit Intellektualität umgehen, und wie manche Journalisten, anstatt zu berichten, missliebige Stimmen mundtot machen wollen – Protokoll einer sehr deutschen Debatte, Akt III

Wer den Gestus des Zurücktretens und Im-Elfenbeinturm-Nachdenkens suspendieren möchte, der löst eigentlich die Idee der Philosophie auf.

Philipp Felsch, Philosoph

Die nächste Station der kleinen November-Reise der Philosophin Svenja Flaßpöhler durch die deutschen Medien war nach Auftritten bei "Markus Lanz" (2.11.) – siehe Akt I: Die Impffrage und der neue Kulturkampf gegen die Philosophie – und "Hart aber Fair" (15.11.) – siehe Akt II: Propaganda für Impfpflicht? – dann eine Einladung zu "Precht", für die Sendung am Sonntag, den 28. November 2021.

Auch wenn einem der Solinger Multitasker Richard David Precht ("Lenin kam nur bis Lüdenscheid") ein bisschen suspekt ist, und man in ihm ohne Weiteres die neueste Stufe einer grundsätzlichen Abstiegsbewegung der Philosophie im deutschen Fernsehen von Hannah Arendt über Volker Panzers "Nachtstudio" und Peter Sloterdijk hinaus erkennen kann, muss man das grundsätzliche Niveau der Sendung loben. Dies war eine ruhige, zivilisierte Diskussion, in der Gelassenheit und Neugier dominierten. Hier konnte Svenja Flaßpöhler differenziert ihre Positionen darlegen.

Bildung und Differenziertheit, klassische Intellektualität waren gewollt – während die Philosophin bei "Hart aber Fair" von Moderator Frank Plasberg konsequent als "Frau Doktor Flaßpöhler" angesprochen wurde, offensichtlich um anti-intellektuelle und anti-akademische Reflexe zu bedienen. Anders war nicht zu erklären, dass in der gleichen Sendung weder Lisa Federle als "Frau Doktor" tituliert wurde noch der Immunologe Carsten Watzl als "Herr Professor".

"Corona ist auch eine Erleichterung"

Thema der Precht-Sendung waren zwar weder "Corona" noch die Frage der Impfpflicht, sondern Flaßpöhlers wenige Wochen zuvor erschienenes Buch "Sensibel". Doch war das eine nicht ohne das andere möglich.

In ihrem Buch entwickelt die Philosophin anhand einer Kultur- und Geistesgeschichte der Sensibilität die These, moderne Gesellschaften hätten in den letzten Jahrzehnten eine "immer größere Angst vor der Ambivalenz der Gefühle und vor der Ambivalenz des Sozialen" entwickelt:

"Wir haben ein großes Verlangen danach, das reine gute Verhalten zu kultivieren."

Flaßpöhler skizzierte eine "grandiose Deregulierung des Verhaltens" seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zur Dialektik der Auflösung von Sittenstrenge und Formenstrenge gehöre eine große Verunsicherung und in deren Folge "ein neues Begehren nach Eindeutigkeit, nach Formen, nach Regulation".

Dies zeige sich besonders in den zwei Jahren der Corona-Pandemie: "Corona ist auch eine Erleichterung. Die Komplexität des Sozialen wird steril und wird vereindeutigt." Die strenge Regulation als Folge seuchenhygienischer Notwendigkeit werde begrüßt. Die neue Regulation des Sozialen werde als "Abschied von der Ambivalenz" begrüßt.

"Die Kulturgeschichte besteht darin, den Menschen das Fühlen auszutreiben"

Flaßpöhler und Precht waren sich in diesem Punkt einig: Sensibilität geht mit einer neuen Härte einher, nämlich mit einer ganz strengen Regulation sozialer Beziehungen. In der Öffentlichkeit werde abweichendes Verhalten zunehmend stigmatisiert.

Hier war man wieder bei Impf-Skeptikern und -Gegnern. Besonders Precht machte dabei den Gedanken stark, es sei etwas kulturgeschichtlich Neues, das Gefühl der Menschen gegenüber wissenschaftlichen Tatsachen derart ins Zentrum zu rücken – wie dies unter anderem bei der erstaunlich großen politisch- sozialen Rücksicht gegenüber "Querdenkern", Corona-Leugnern und Impf-Gegnern gerade geschieht.

"Die Kulturgeschichte besteht darin, den Menschen das Fühlen auszutreiben und ihnen beizubringen, ihren Verstand zu gebrauchen", so Precht. "Die Menschen sollen dem Anderen der Vernunft, den Leidenschaften gerade nicht folgen. Sondern sie sollen lernen, mit ihnen umzugehen, sie zu kontrollieren."

Corona, so ergänzte Flaßpöhler dann, verändere bei vielen Menschen gerade deren "leibliche Sensibilität". Nähe von anderen Menschen wird anders gesehen. Man schätze plötzlich Distanz ganz neu. Die Frage sei, ob davon in der Zeit nach Corona etwas zurückbleibe. Überhaupt: Welche Langfrist-Folgen hat Corona?

Die Gesellschaft verliere ihre Gelassenheit durch die Corona-Zustände noch weit mehr als durch die allgemeine Sensibilisierung. Sensibilität verwandelt sich in Nervosität und Reizbarkeit. Precht ergänzte solche Überlegungen: "Viele Menschen haben Angst. Man befindet sich ja irgendwo in einem Zustand wie im Krieg. Normalität ist nicht mehr da. Und im Gegensatz zum Krieg wird es keinen 8. Mai geben." Eine Rückkehr zum alten Normalzustand gebe es nicht. "Wie viel davon bleibt in einer späteren Gesellschaft zurück?"

Das Tocqueville-Paradox

Irgendwann im Lauf der Sendung erwähnte Svenja Flaßpöhler dann auch das "Tocqueville-Paradox", benannt nach dem französischen politischen Philosophen Alexis de Tocqueville (1805-1859): "Je gleichberechtigter Gesellschaften werden, umso sensibler werden sie für Differenzen." Moderne Gesellschaften sind wesentlich sensibler als archaische Gesellschaften. Aber je sensibler sie sind, umso mehr wird in ihnen gekämpft.

Mit solchen Überlegungen endete dann Flaßpöhlers dritter Fernsehauftritt – der mit Abstand friedlichste der drei.

Umso härter prasselte dann aber in anderen Medien die Kritik auf Flaßpöhler, ihre Positionen und Gastgeber Precht ein.

Aus Feigheit vor dem Volk? Talkshows statt Parlamentsdebatten

Schon vor der Precht-Sendung war Flaßpöhlers Teilnahme bei "Hart aber Fair" der Süddeutschen Zeitung nicht weniger als drei (!!!) Nachberichte wert. Zur Erinnerung: An der Sendung hatte auch SZ-Journalist Georg Mascolo teilgenommen, der der Einfachheit halber einen der Berichte gleich selber schrieb.

Gleich am Tag nach der Sendung reduzierte man (unter der Überschrift: "Wenn gefühlte Wahrheiten auf Fakten treffen") Flaßpöhlers Positionen auf "krude Ansichten". Sie habe alle anderen gegen sich aufgebracht. Was offenbar schon Majestätsbeleidigung genug war. Die Argumente der Philosophin erkannte der Berichterstatter nicht. Stattdessen "jede Menge gefühlte Wahrheiten ..., gewissermaßen eine große Portion 'Heiteitei' für die Impfverweigerer".

Auch die für so etwas eigentlich zu klugen Laura Hertreiter und Nele Pollatschek wurden grob: Da war Flaßpöhler höchst untergriffig plötzlich eine Dauertalkshowteilnehmerin (obwohl sie weniger im Fernsehen auftritt als Georg Mascolo), die "gerade ... als Impfpflicht-Kritikerin durch die Talkshows ... tourt", und dort Sachen sagt, die "nicht ganz richtig, zu kurz gedacht oder zumindest mal diskussionsbedürftig" seien. Letzteres will man ja in TV-Diskussionen, für die ersteren Vorwürfe hätte man in der SZ gern auch Argumente gelesen.

Stattdessen kann "man ... sich natürlich fragen, warum Flaßpöhler überhaupt eingeladen wird". Vielleicht weil Talkshows in der Mediengesellschaft stellvertretend für die Republik jene Debatten ausfechten, die sich der Gesellschaft stellen, und die im Parteienteil der Demokratie oder im Parlament gerade – aus Feigheit vor dem Volk? – nicht ausgefochten werden?