Die Inkarnation des Bösen

Lukaschenkos Bart. Bild: Информационное агентство БелТА, CC BY-SA 3.0

Anmerkungen zur medialen und politischen Darstellung Alexander Lukaschenkos und der Flüchtlingskrise an der Ostgrenze der EU (Teil 1)

Zum sogenannten Konflikt an der belarussisch-polnischen Grenze veröffentlichte das deutsche Massenblatt Bild am 11. November online und in Druckversion zwei bemerkenswerte Kurzkommentare, die Schlagzeilen in alarmistischen Großbuchstaben gefasst.

Wie auch immer das Geschehen an der belarussisch-polnischen Grenze ausgehen mag, eine nähere Betrachtung dieser zwei Kurzkommentare scheint empfehlenswert. Die Betrachtung folgt dabei dem Prinzip, Lukaschenko nicht zu verurteilen, sondern ihn zu beurteilen, das heißt zu erklären, warum er tut, was er tut.

Hier – leicht gekürzt – die Kommentare:

Stürzt den Diktator!

Alexander Lukaschenko missbraucht Flüchtlingsfamilien als Waffen gegen Europa

Von: JULIAN RÖPCKE 11.11.2021 - 10:11 Uhr

Der belarussische Diktator lässt Menschen 2000 Kilometer einfliegen, um sie vor unseren Augen leiden zu lassen. Er missbraucht Flüchtlingsfamilien als Waffen gegen Europa.

Was wir aktuell an der Grenze zwischen Belarus und Polen erleben, ist nicht nur eine Krise, sondern auch ein Angriff auf die EU und Deutschland.

Seit 15 Monaten ist Alexander Lukaschenko nach der gestohlenen Belarus-Wahl bereits im Amt. 15 Monate, in denen er seine Bürger gefoltert, inhaftiert und zu Flüchtlingen gemacht hat. Das sind 15 Monate zu viel.

Jetzt wird der paranoide, größenwahnsinnige Despot zu einer Gefahr für unseren Kontinent.

Am Dienstag drohte er mit dem Nukleararsenal seines Schutzpatrons Putin. Gestern schickte der Kreml zwei Atombomber nach Belarus.

Darum kann es für Brüssel und Berlin nur eine Lösung geben: Sie müssen Diktator Lukaschenko stürzen!

Die Sanktionen gegen ihn und sein Regime müssen maximal verschärft und ausgeweitet werden [...] um ihn zu Fall zu bringen.

DEUTSCHLAND VÖLLIG HILFLOS IN DER FLÜCHTLINGSKRISE -

Merkel bettelt bei Putin, Scholz schweigt

Von: ALBERT LINK, JULIAN RÖPCKE UND PETER TIEDE 11.11.2021 - 13:15 Uhr

BILD nennt die drängendsten Fragen:

Wohin mit den Migranten?

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak (36) machte gestern bei BILD Live klar, dass Deutschland die Menschen nicht aufnehmen sollte. "Nein, ganz ausdrücklich Nein!". Die Migranten müssten "nicht zwangsläufig in der EU" bleiben [...].

Wie kann Putin gestoppt werden?

Noch-Kanzlerin Angela Merkel (67, CDU) versuchte es gestern per Bettel-Anruf: Sie bat Russlands Präsident Wladimir Putin (69), "auf das Regime in Minsk einzuwirken", dessen "unmenschliches und inakzeptables" Vorgehen zu stoppen. Problem: Putin steckt mit Lukaschenko unter einer Decke.

Wie kann Deutschland Polen unterstützen?

Zum Beispiel beim Bau des Grenzwalls, forderte Bundesinnenminister Horst Seehofer (72, CSU) in BILD.

Ein nicht erlaubter Gebrauch staatlicher Macht

Sowohl als Staatsmann, als Kenner und Praktiker zwischenstaatlichen Wirkens und des Geschäfts der Diplomatie, wie auch als Kenner und zeitweiser Mitmacher des Humanismus der deutsch-europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik, eröffnet der belarussische Staatspräsident Lukaschenko Flüchtlingen vornehmlich aus dem Irak, Afghanistan, (Nord-) Syrien und Afrika eine Fluchtperspektive nach Europa.

Anstatt sich als mit allen erdenklichen paramilitärischen und militärischen Hightech-Mitteln gesicherter Frontex-Frontstaat gegen unerwünschte "Migranten" und Flüchtlinge aus aller Herren Länder zu bewähren und konstruktiv am europäischen Projekt eines souveränen, weltweit wirksamen "Migrations- und Flüchtlingsmanagement" mitzuwirken, erlaubt sich Lukaschenko Gegenteiliges.

Ganz anders als Polen oder die baltischen Staaten, die ihre staatliche Macht im Sinne des deutsch-europäischen "Migrations- und Flüchtlingsmanagement" gebrauchen, nimmt Lukaschenko sich ungefragt das Recht heraus, Flüchtlinge nicht zurückzuhalten, sondern Belarus vorübergehend zu einem durchlässigen Transitland zu machen und Flüchtlinge legal nach Belarus einfliegen zu lassen.

Mehr noch: Er gebraucht die politische Macht, indem er Flüchtlinge mit staatlicher Unterstützung an die belarussisch-polnische Grenze, die zugleich als EU-Außengrenze des Schengenraums fungiert, befördert.

Dieser vom Humanismus der deutsch-europäischen Wertegemeinschaft nicht genehmigte, eigenmächtige Gebrauch der politischen Macht in Belarus ist damit postwendend als ein Missbrauch staatlicher Macht an der Schengen-Außengrenze definiert.

Dies, zumal Lukaschenko damit das am 1. Juli 2020 in Kraft getretene Abkommen zwischen der EU und Belarus über "Visaerleichterung und über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt" vorerst auf Eis legt. Lukaschenko bedeutet seinem bisherigen "Vertragspartner" EU, nun nicht mehr als kooperativer Türwächter der EU-Migrations- und Flüchtlingspolitik zur Verfügung zu stehen.

Dieser Gebrauch der staatlichen Macht nach Außen durch den belarussischen Staatsmann markiert den Beginn des sogenannten "Konflikts" an der belarussisch-polnischen (und baltischen) Grenze. Der Gebrauch der belarussischen staatlichen Macht durch Lukaschenko nach Innen steht dabei noch auf einem gesonderten Blatt.

Ein Angriff der besonderen Art

Der belarussische Diktator lässt Menschen 2000 Kilometer einfliegen, um sie vor unseren Augen leiden zu lassen. Er missbraucht Flüchtlingsfamilien als Waffen gegen Europa.

Bild

Die Eröffnung einer möglichen neuen Fluchtroute nach Europa für das Strandgut US-westlichen politökonomischen und kriegerischen Wirkens im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika, ist für die abendländische Wertegemeinschaft gleichbedeutend mit einer absoluten Provokation.

Dementsprechend eingeordnet und definiert als "hybride Attacke" (Merkel auf der Pressekonferenz mit Morawiecki am 25.11.2021).

In den Worten des polnischen Ministerpräsidenten: "Lukaschenko hat versucht, diese Grenze zu testen. Er hat […] einige Tausend Migranten eingeladen." (ebd.) Diesem "staatsgesteuerten Terror" (Morawiecki) der darin besteht, Schutzsuchenden mit staatlicher Unterstützung eine mögliche Fluchtroute zu eröffnen, ist entschiedenst entgegenzutreten.

Lukaschenko ist nicht entgangen, dass das Ziel eines global ausgreifenden, europäischen Migrations- und Flüchtlingsmanagement gewisse Verletzlichkeiten hervorbringt.

Gegenüber dem Anspruch, höchst souverän die sogenannten "Migrations- und Flüchtlingsströme" zu "managen" (EU-Kommission), ist Lukaschenkos staatlich geförderte Flüchtlingsinitiative allerdings "ein Angriff auf die EU und Deutschland" (Bild).

Eine zwar, was die Angriffswaffe betrifft, recht ungewöhnliche Art, einen Krieg gegen Deutschland und Europa zu eröffnen.

Andererseits eine insofern gelungene diplomatische Provokation, als auch nur die Perspektive und Eröffnung einer Fluchtmöglichkeit nach Europa das europäische Migrations- und Flüchtlingsmanagement in helle Aufregung versetzt: Auf der Ebene höchster Prinzipienfragen ist die europäische Souveränität tatsächlich verletzt.

Zum einen, als mit der "drohenden" Grenz-Verletzung des Schengenraums durch ein paar tausend Flüchtlinge und Schutzsuchende die territoriale Unversehrtheit und Gebietshoheit des Schengenraums berührt, "angegriffen" ist.

Schließlich dienen Grenzen zu nichts anderem, als die territoriale Unversehrtheit und Gebietshoheit zu garantieren. In den Worten des neuen deutschen Staatsoberhauptes: "Natürlich gibt es eine gemeinsame Klarheit darüber, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa zu den Prinzipien gehört, die alle in Europa für gemeinsame Sicherheit akzeptieren müssen." (Olaf Scholz, 10.12.2021)

Zum anderen sieht sich das souveräne Management über das millionenfache, namenlose Strandgut weltweiten abendländischen Wirkens infrage gestellt: Lukaschenko nimmt sich, wie schon das türkische Staatsoberhaupt Erdogan oder Marokko, die Freiheit, migrations- und flüchtlingspolitische Initiative zu ergreifen und die europäische Wertegemeinschaft ist genötigt, darauf zu reagieren.

Und das angesichts eines Staatsoberhauptes, dem, anders als dem Staatsoberhaupt des türkischen Nato-Partners, die faktische Anerkennung als Regierungschef seitens der europäischen politischen Machthaber seit August 2020 endgültig versagt sein soll.