Nachträge zu: Freiheit, die gemeint ist

Rückmeldungen im User-Forum geben Anlass für weitere Klarstellungen zum Streitthema Impfpflicht

Die folgenden Nachträge zum fraglichen Artikel zur Impfpflicht beruhen auf der Durchsicht der zahlreichen Leserstimmen und sollen dem besseren Verständnis eines Standpunkts dienen, der sich in der aktuellen Kontroverse zwischen dem Staat und Teilen seiner Bürgerschaft nicht auf eine Seite schlägt.

Die Kritik der staatlichen Maßnahmen und ihrer politisch-ideologischen Begründung ist etwas anderes, als dem Impfen seinen medizinischen Wert zu bestreiten oder den Freiheitsrufen der Anti-Vaxxer recht zu geben.

Rechtsstaat

Ein erstes Feedback kommt von "Emma Peel" und betrifft den Teaser des Artikels: "Der liberale Rechtsstaat gerät zusehends mit den Freiheitsrechten seiner Bürger in Konflikt." "Emma" hält das für einen "Passivsatz", mit dem "sich so wunderbar über reale Interessen und Handlungen schweigen" ließe. Es stelle "sich die Frage, durch welche realen Handlungen welcher Personen dieser 'liberale Rechtsstaat' mit den Freiheitsrechten seiner Bürger in Konflikt gerät und ob er dann … noch (so) bezeichnet werden könnte."

In der Tat klingt der Teaser, den die Telepolis-Redaktion formulierte, ein wenig nach einem unweigerlichen Dilemma. Aber Staat und Rechte stehen sich nicht einfach gegenüber, der eine gewährt die anderen vielmehr aus seinen hoheitlichen Gründen. Der Artikel schweigt daher auch nicht darüber, sondern führt aus, warum "die Freigabe wie die Verpflichtung des Bürgerwillens nur zwei Weisen seiner öffentlichen Indienstnahme sind – in diesem Fall für die rechtsstaatlich-marktwirtschaftliche Abwehr einer Sorte Naturkatastrophe".

Denn "dem Staat erscheint das Durchimpfen des Volks als der Ausweg schlechthin aus der Zwickmühle, der Wirtschaft zu ihrem Nutzen schaden zu müssen." Dass dies durch "Personen" geschieht, genauer durch gewählte Machthaber aus den Reihen der Bürger, ist geschenkt. Schief liegt "Emma" aber in ihrem Wunsch, nur den Staat als "Rechtsstaat" zu bezeichnen, der es ihr recht macht.

Vernunft

"Friedolinchen" widerspricht folgendem Passus im Artikel:

Der Vorwurf, die Ungeimpften ließen es der Nation gegenüber an Pflichtgefühl und Mitverantwortung fehlen, zählt zehnmal mehr als das schlichte Argument, dass im rationellen Verhalten angesichts einer Epidemie der Eigennutz mit dem Nutzen anderer zusammenfällt.

Der User widerspricht:

Der Autor suggeriert, die Diskussion sei vom "Nationalen" und der Forderung nach "Pflicht" geprägt. … Er nennt nicht, wer denn was gesagt hat. Ein Zeichen der Hilflosigkeit … Es sind weder die "Nation" noch die "Pflicht", die immer wieder aufgerufen werden. Es ist die Vernunft, die von den meisten Befürwortern der Impfung angeführt wird.

Auch der Kritiker zitiert nicht, "wer da was gesagt hat", sondern verlässt sich wie der Autor darauf, dass dem normalen Zeitungsleser entsprechende Belegstellen en gros bekannt sind. Sie lassen sich aber auch en détail nachtragen:

Der bayerische Gesundheitsminister hat vorgeschlagen, bei Verstößen gegen die geplante allgemeine Impfpflicht nicht nur Bußgelder zu verhängen, sondern auch … höhere Krankenkassenbeiträge, eine Beteiligung an den Behandlungskosten oder die Streichung des Krankengelds.

Es dürfte klar sein, welcher Art die "Vernunft" ist, die da aufgerufen wird, um die nationalen Unkosten der Pandemie zulasten personaler Pflichten zu senken. "Eine positive Wirkung verspricht sich auch Bayerns Ministerpräsident. Eine Impfpflicht könne einigen helfen, ihr Gesicht zu wahren. 'Eine einheitliche Pflicht, die für alle gilt, schweißt zusammen'." Hier braucht man das "Nationale" nicht groß zu "suggerieren", wenn Söder das herrschaftliche Anordnen zum Stifter eines besonderen Wir-Gefühls erklärt und den Zauderern eine Brücke dahin bauen will.

Schließlich die Weihnachtsbotschaft des Bundespräsidenten:

In der Demokratie müssen wir nicht alle einer Meinung sein. Aber bitte denken wir daran: Wir sind ein Land! Wir wollen auch nach der Pandemie noch miteinander leben.

Dieser einen Meinung müssen "wir" alle aber sein – auch wenn der Präsident das unbedingte Muss als Bitte ans Wollen auszudrücken versteht. Weiter im Kontext der Pandemie:

Oder Freiheit: Ist Freiheit der laute Protest gegen jede Vorschrift? Oder bedeutet Freiheit manchmal nicht auch, mich selbst einzuschränken, um die Freiheit anderer zu schützen?

Fragen, die keine sind, die "Friedolinchen" aber vermutlich mit einem "Aufruf an die Vernunft" verwechselt. Vorsicht. Erstens geht es hier um Corona, also darum (s.o.), "dass hier im rationellen Verhalten der Eigennutz mit dem Nutzen anderer zusammenfällt".

Es widerspricht im Fall einer Epidemie dem eigenen Infektionsschutz, ihn auf Kosten der Gesundheit anderer erreichen zu wollen. Zweitens kommt dieses Argument in der medizinischen Aufklärung zwar vor, erfährt aber eine bemerkenswerte politische Verschiebung. Dann nämlich, wenn der einzelne Bürger zum Subjekt der Pandemie-Bekämpfung und negativ zum Schuldigen an ihren Misserfolgen ernannt wird.

Also ausgerechnet der, der unzuständig und machtlos auf die Maßnahmen von oben verwiesen ist, sich zur Arbeit in die S-Bahn zwängt und dann in der Freizeit Kontakte vermeidet, damit die kostenbewusst reduzierten Intensivbetten reichen.

Dessen Impfung daran geknüpft ist, dass mit ihr ein Geschäft in Gang kommt, weshalb seine Mitmenschen im Globalen Süden auf den Impfstoff sowie auf mögliche Mutationen warten, usw. Der Präsident verschiebt das drittens noch hin zu einer Freiheitsfrage, aus der er eine Pflicht zur Selbstbeschränkung herausholen will.

Damit unterstellt er, wie "Friedolinchen" wohl auch, individuelle Freiheiten als kollidierende, die wie von selbst gesellschaftliche Gegensätze hervorbrächten. Wie aber sollen verschiedene Willen aus sich heraus zur Kollision neigen? Warum soll man der willentlichen Autonomie getrennt vom unvernünftigen Inhalt, den sie sich vornehmen kann, "Gefährdungspotenziale" bescheinigen?

Da müssen schon gegensätzliche Interessen einer Art ins Spiel kommen, wie man sie im Kapitalismus zur Genüge kennt. Die veranlassen die souveräne Gewalt dann dazu, sie zu einer Koexistenz zu zwingen – und den Akteuren wie den Betroffenen gilt das glatt als Akt der "Vernunft".

Der Kanzler drückt das in der Neujahrsansprache auf seine Weise aus, wenn er "unser Land" als "starke Gemeinschaft" lobt, die "Widersprüche aushält". Die "Widersprüche" sind ihm offenbar so selbstverständlich wie der Staat, der eine "Gemeinschaft" herbeiregiert, die diese "aushält".

An der präsidialen Frageform und der Söder'schen Gesichtswahrung merkt man außerdem das, was Scholz ausdrückt, wenn er "auch der Kanzler der Ungeimpften" sein will. Die bilden immerhin einen zweistelligen Prozentsatz der Bevölkerung, und der widerspenstige Anteil unter ihnen nimmt zu. Die Staatsautorität würde daher am liebsten die Impfraten erhöhen, ohne den Widerstand dagegen anzuheizen.

Die im Artikel so bezeichnete "staatsmoralische Anmache" steht daher als Ersatz einer Vernunft, die diese Gesellschaft nicht hergibt, und für eine Gewalt, die als innere Pflicht wirksam werden soll. Das soll helfen, die Masse der Indifferenten zum Impfen zu bewegen. Daran lassen sich gegebenenfalls auch die Corona-Protestler, denen der Präsident "Frust, Gereiztheit und Entfremdung", also eine psychische Belastung zugesteht, von denen scheiden, deren "offene Aggression" staatlich definiert, gebrochen und bestraft wird.