Nordsyrien: Eine neue Generation von IS-Terroristen wächst heran

Bild: ANF

Al Hol und andere "Mini-IS"-Camps: Keimzellen für ein neues internationales Problem. Berliner Regierung ignoriert die Gefahr

Noch immer leben Zehntausende IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern in bewachten Lagern in Nordsyrien. Darunter auch Tausende IS-Frauen aus anderen Ländern. In den Camps herrscht die Scharia und Morde sind dort an der Tagesordnung. Mangels internationaler Unterstützung für die Verwaltung haben sich diese Lager zur Brutstätte einer neuen Generation von potenziellen IS-Terroristen entwickelt, die auch bald eine internationale Gefahr darstellen könnten. Die Selbstverwaltung kann nur wenigen Jugendlichen in der Stadt Hasaka therapeutische Hilfe ermöglichen. Es fehlt an internationaler Unterstützung und an finanziellen Mitteln.

Vergangenen Dienstag wurde der 26-jährige Krankenpfleger Basim Mihemed des kurdischen Roten Halbmonds: Heyva Sor auf der Krankenstation im Camp Al Hol bei Deir ez-Sor von einem Mitglied einer IS-Schläferzelle ermordet. Ein äthiopischer Arzt wurde auf der gleichen Krankenstation am selben Tag von einer mit einem Messer bewaffneten Frau angegriffen und verletzt. Die meisten internationalen NGO und lokale Organisationen, die dort humanitäre Hilfe leisten, haben daraufhin ihre Arbeit vorübergehend eingestellt.

Auch die Beschäftigten des kurdischen Roten Halbmonds verließen das Camp, nachdem innerhalb von 24 Stunden ein weiterer Arzt in einem Krankenhaus bei Deir ez-Sor getötet. Nur noch absolut nötige Dinge wie Wasser, Brot und andere Lebensmittel werden bereitgestellt. Das Sicherheitsbüro der Organisation "Bluemont" erörterte mit der Zivilverwaltung die Lage im Lager.

In Al Hol arbeiten ca. 50 lokale und internationale Organisationen. Nach ersten Informationen gab eine Person an der Tür der Krankenstation an, sie wolle eine Patientin namens Asma in der Krankenstation besuchen. Es gab aber keine Patientin Asma auf der Krankenstation von Heyva Sor.

Neben der Krankenstation von Heyva Sor liegt noch eine weitere medizinische Einrichtung der deutschen NGO Cadus. Der Krankenpfleger verlangte von der Person, dass sie sich ausweisen und ihr verschleiertes Gesicht zeigen sollte, damit sie zur anderen Krankenstation gehen kann. In diesem Moment griff die Person den Krankenpfleger mit einer Stichwaffe an und floh danach. Der in Hasaka geborene Krankenpfleger erlag seinen Stichverletzungen.

Die Absurdität der Vorgaben des BMZ zeigt sich vor Ort

An diesem Beispiel zeigt sich das Dilemma, in dem deutsche NGO vor Ort stecken. Die Bundesregierung verbietet den NGO die direkte Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Sie dürfen zwar mit deutschen Fördergeldern in Bereichen des "arabischen Kerngebietes", wie es das BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) definiert, humanitär tätig sein, aber nicht mit der Selbstverwaltung kooperieren. Darunter fallen fast alle demokratischen, kurdischen Organisationen.

Das schafft Parallelstrukturen anstelle von Synergieeffekten und führt vor Ort zu noch mehr Problemen. Das vom BMZ definierte "arabische Kerngebiet" wird sehr eigenwillig definiert: Nur in einem kleinen Gebiet rund um das Lager Al Hol und Deir ez-Sor dürfen sie in eng definierten humanitären Projekten mit BMZ-Fördergeldern tätig sein.

Wiederaufbauprojekte im ökologischen oder bildungspolitischen Bereich, die viele kleinere NGO gerne in Angriff nehmen würden, werden nicht gefördert, obwohl solche Projekte notwendig sind, um die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern und so Fluchtursachen zu beseitigen. Es gibt leider wenig Hoffnung, dass sich das mit der neuen Ampel-Regierung ändert. Es wäre enorm wichtig, diese Region zu stabilisieren.

Der IS ist zwar in seiner ursprünglichen Organisationsstruktur von den Syrian Democratic Forces (SDF) besiegt worden. Aber in den Lagern wächst eine neue Generation des Islamischen Staates heran, die über kurz oder lang wieder zu einem weltweiten Problem werden wird. Es wäre deshalb das Gebot der Stunde, die Selbstverwaltung mit allen Mitteln im Kampf gegen eine Wiederkehr des IS zu unterstützen.

Aber dann müsste man mit Entwicklungs- und Wiederaufbauhilfe dazu beitragen, dass die Selbstverwaltung nachhaltig die Versorgung der Bevölkerung sichern könnte, dass sie im ökologischen Umbau der Landwirtschaft unterstützt wird etc… Erst dann hätten die Menschen eine Bleibeperspektive und der IS und die im Sold der Türkei stehenden islamistischen Söldnertruppen hätte weniger Chancen, Menschen zu rekrutieren.

Brutstätte für eine neue IS-Generation

Das Auffang- und Internierungslager Al Hol im nordsyrischen Kanton Hasaka gilt als Brutstätte des IS. Das Lager beherbergt etwa 15.650 Familien mit insgesamt 57.516 Personen, darunter 2.423 Familien von inhaftierten oder getöteten Kämpfern der Organisation Islamischer Staat (ISIS), die aus über 60 Ländern stammen. Die meisten Herkunftsländer verweigern die Rücknahme ihrer Staatsangehörigen. Etwa die Hälfte aller Internierten sind Minderjährige, die von IS-Anhängerinnen indoktriniert werden.

Im Sektor "Muhadschirat" des Al Hol Camps haben IS-Anhängerinnen nach dem Vorbild der sogenannten Al-Khansa-Brigade (Liwa al-Khansa), der IS-Religionspolizei für Frauen, die Hisba-Truppe aufgebaut. Dort gibt es auch die IS- Jugendorganisation 'Junglöwen des Kalifats'. Auf das Konto dieser IS-Strukturen im Lager gingen 2021 mindestens 127 Morde. Im Dezember 2021 entdeckten Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung einen unterirdischen Tunnel, der für die Ausbildung der IS- Jugendorganisation und als Versteck jugendlicher Attentäter genutzt wurde.

Eine ca. fünfzigjährige irakische Frau aus Al-Hol berichtet, dass bereits sechs Mitglieder ihrer Familie von IS-Schläferzellen getötet wurden, weil sie sich der IS-Ideologie widersetzten. Um ihre Kinder zu schützen, sitzt sie ihren Interviewern verhüllt in ihrem Zelt gegenüber. Es ist gefährlich, mit Fremden zu sprechen, denn sie geraten sofort in Verdacht, Agenten der SDF oder der Anti -IS-Koalition zu sein.

IS-Frauen erlassen nach Angaben von Lagerbewohnern Tötungsbefehle, wenn sie im Lager gegen die IS-Regeln verstoßen. Die Frau berichtet von einem kürzlichen Vorfall auf dem Markt des Camps:

"Als ich vor einem Geschäft auf dem Markt stand, wollte mich ein Mann mit einer Pistole hinter das Geschäft zwingen, um mich zu töten...Ich rannte vom Markt weg, und sie verfolgten mich, bis ich das Zentrum des Kurdischen Roten Halbmonds erreichte, wo Mitglieder der Sicherheitskräfte "Asayish" anwesend waren, so dass es mir gelang zu fliehen."

Die Selbstverwaltung Nordsyriens wird im Kampf gegen den IS allein gelassen

Die neue Bundesregierung beschloss gerade die Verlängerung des Bundeswehrmandats im Irak. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Verteidigungsministerin Christine Lamprecht (SPD) legten dem Bundestag einen Vorschlag vor, der "eine Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Sicherung von Stabilisierungsfortschritten, Verhinderung des Wiedererstarkens des sogenannten "Islamischen Staats" (IS)…" vorsieht.

Ausgeschlossen ist dabei der Einsatz von Aufklärungsflugzeugen über Syrien. Syrien werde "als Einsatzgebiet ausgeschlossen". Nun kann man das Bundeswehrmandat im Irak und Syrien grundsätzlich in Frage stellen, zumal davon auszugehen ist, dass die Aufklärungsbilder aus Syrien und dem Irak auch dem Nato-Partner Türkei zur Verfügung stehen, der absurderweise als Unterstützer der Islamisten in Nordsyrien agiert. Deren Militärstrategen und Geheimdienstler werden sich auf den Fotos weniger für IS-Nester interessieren, aber umso mehr für die Stellungen der SDF in Nordsyrien und der PKK im Nordirak.

Andererseits ist in gut informierten Kreisen bekannt, dass "unter dem Radar" auch Deutschland mit dem nordsyrischen Militär SDF im Kampf gegen den IS kooperiert. Von daher ist die Kritik des Vize-Unionsfraktionschef Johann Wadephul nicht von der Hand zu weisen, es sei kurzsichtig, den Einsatz in Syrien auszuschließen und man solle sich die Flexibilität wahren, an der Seite unserer Partner den IS dort zu treffen, wo er agiere.

In Syrien ist der Partner am Boden die demokratische Selbstverwaltung und deren Militär, die SDF. Der Nato-Partner Türkei bekämpft diese aber mit allen Mitteln. Kann es also sein, dass der deutsche Rückzug vor allem mit Rücksicht auf Erdogan erfolgt ist?

Mit den IS-Gefangenen wird die Selbstverwaltung trotz steigender Gefahr durch Schläferzellen nach wie vor allein gelassen. Abdulkarim Omar, Ko-Vorsitzender der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten, warnt vor Hunderten Schläferzellen in den jahrelang von den Islamisten kontrollierten Gebieten. Nachschub komme aus dem Irak und aus der türkischen Besatzungszone in Nordsyrien, berichtete er der kurdischen Nachrichtenagentur ANF.

Die wirtschaftlichen Probleme und die Schließung des Grenzübergangs Til Koçer (Al-Yarubiyah) würde die Situation noch verschärfen. Internationale Hilfslieferungen kämen nur beim syrischen Regime in Damaskus an und erreichten Nordsyrien nicht. Der IS nutze die schlechte wirtschaftliche Lage für seine Reorganisierung aus. Er appellierte erneut an die internationale Gemeinschaft, der Selbstverwaltung zu helfen. Die Situation im Camp al-Hol sei längst außer Kontrolle geraten.

"...Wir sagen seit Jahren, dass Camp Hol eine tickende Zeitbombe ist. Man weiß nicht, wann sie explodiert, aber diese Explosion wird nicht nur uns betreffen, sondern die gesamte Welt."

Im Juni 2021 fand eine internationale Konferenz zur Situation im Camp Al-Hol statt, an der neben der Selbstverwaltung fünfzig Vertreter von Außenministerien und Organisationen z.B. der USA, Kanada und anderer europäischer Staaten teilnahmen. Dort berichteten Vertreter der Selbstverwaltung auch über ein Schleppernetz, in das der türkische Geheimdienst MIT Tausende Dollar investiert hat, um IS-Anhängerinnen aus dem Lager zu holen.

In einem Video berichten zwei Frauen über ihre erfolglose Flucht in die Türkei Um Al Hol besser kontrollieren zu können, solle das Lager nun in verschiedene Sektionen unterteilt werden. In den Sektionen sollen Bildungszentren eingerichtet werden, um der IS-Ideologie etwas entgegenzusetzen.

Nach der Konferenz haben die beteiligten Außenministerien zwar weiter über die Problematik beraten, aber bis heute, ein halbes Jahr später, erfolgten keine konkreten Schritte. Jedoch drängt die Zeit: in einem weiteren IS-Internierungscamp, dem kleineren Camp Roj nehmen die Probleme ebenfalls zu. Sorge bereiten der Selbstverwaltung die vielen Minderjährigen dort.

Die Selbstverwaltung richtete mehrere Häuser für Minderjährige ein, in denen sie therapeutisch betreut und auch Bildungsangebote erhalten sollen. In den Lagern werden nämlich bereits Zwölfjährige von IS-Anhängerinnen verheiratet, damit es Nachwuchs für den IS gibt. Deshalb ist es enorm wichtig, die Kinder mit eigenen Bildungsangeboten vor der IS-Indoktrination zu schützen. Wenn die internationale Gemeinschaft die ausländischen Kinder schon nicht zurückholen will, so wäre es ein wichtiger Ansatz, zumindest diese therapeutischen Zentren zu fördern.

Das Rehabilitationszentrum für IS-Kinder: Mit Häkeln und Sport gegen das Kriegstrauma

Der 19-jährige Ibrahim wurde in Deutschland geboren. 2014 wanderten seine Eltern mit ihm zum IS nach Rakka in Syrien aus. Dort wurde der damals Zwölfjährige im Geiste des IS erzogen. Er sollte zum Kämpfer ausgebildet werden. Stattdessen erlebte der Junge die Luftangriffe der Anti-IS-Koalition. Die Erinnerungen holen ihn noch heute ein.

"Das Schlimmste waren die Flugzeuge, die Bomben. Das war das Schlimmste", erzählt er einem ARD-Korrespondenten. Die Familie floh 2019 nach Baghuz, der letzten damaligen IS-Hochburg. Sein Stiefvater starb dort, während er und seine Mutter von den SDF aufgegriffen und ins Al-Hol-Camp gebracht wurden. Ibrahim hatte das Glück, von der Selbstverwaltung einen Platz im Rehabilitationszentrum für IS-Kinder in der Nähe der Verwaltungshauptstadt Qamishlo zu bekommen.

Dort leben ca. 100 Jugendliche aus 22 Ländern im Alter von 12 bis 18 Jahren. Viele sind wie Ibrahim mit der IS-Ideologie groß geworden. "Wir bieten diesen Jugendlichen ein sicheres Umfeld, wollen ihnen helfen, gemäßigte und friedliche Menschen zu werden, die extremistischen Ideen und Gedanken loszuwerden und sich wieder in der Gesellschaft engagieren zu können", erklärt die Jugendpsychologin Khedija Afrin.

Ibrahim hilft Häkeln, um die Kriegstraumata für ein paar Augenblicke zu vergessen. Neben Therapiegesprächen bietet das Zentrum den Jugendlichen viel Sport und Spiele an. Aber ihre Mittel sind begrenzt, denn es gibt keine finanzielle Unterstützung aus den Herkunftsländern. Auch Deutschland leistet keinen Beitrag – weil das Therapiezentrum nicht im vom BMZ definierten "arabischen Kerngebiet" liegt.

Aber wenn die Herkunftsländer nicht bereit sind, ihre Jugendlichen zurückzunehmen, werden sie, volljährig geworden wahrscheinlich in einem Gefängnis der Selbstverwaltung untergebracht werden müssen. Dies sind keine guten Aussichten für den jungen Mann aus Deutschland, sich zu rehabilitieren und ein normales Leben zu führen.