Einflusssphären? Doch nicht bei uns!

US-Panzer beim Demokratieseminar in Panama auf Einladung einer völlig gleichberechtigten Regierung, im Dezember 1989. Bild: DoD photo by PH1(SW) J. Elliott

Die Debatte um das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland nimmt mitunter absurde Züge an. Ein Kommentar

Die Krise zwischen Russland und dem Westen – konkret: den Nato-Mitgliedsstaaten – konnte auch in der vergangenen Woche mit gleich mehreren diplomatischen Marathontreffen nicht gelöst werden. Kaum denkbar also, dass die neu angetretene deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen) bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau einen Fortschritt erreichen kann.

Zumal jeder Schritt in der aktuellen Krise, die im Kern eine Krise der europäischen Sicherheitsarchitektur ist, von mehr oder weniger subtiler Symbolik begleitet wird. Im Fall Baerbocks ist das die Reiseroute, die sie zunächst nach Kiew führt und dann erst nach Moskau.

Im politisch-medialen Diskurs – dem also, was politische Akteure postulieren und Medien verbreiten – wird ein Paradoxon indes offensichtlicher. Mit der Kritik an der russischen Politik von Einflusssphären benennt man zwar die zentrale Herausforderung im Verhältnis zu Moskau – um sie zugleich auf der eigenen Seite mit einer schon skurril anmutenden Ignoranz zu belegen.

Das Denken in Einflusssphären passe nicht zur heutigen Welt, wird die US-Unterhändlerin und Vize-Außenministerin Wendy Sherman nach ihren Gesprächen mit ihrem Amtskollegen Sergej Rjabkow in einigen Medien zitiert.

Ein Kolumnist der Nachrichtenagentur Bloomberg bemühte gar den Konflikt zwischen Athen und Sparta sowie die Punischen Kriege zwischen Rom und Karthago, um an den westlichen Widerstand gegen die russische Einflusspolitik zu appellieren.

In Bezug auf die westliche Außenpolitik präsentierte der Bloomberg-Analyst, der hier nur stellvertretend für eine ganze Reihe entsprechender Interventionen angeführt wird, die klassische Politik von Einflusssphären als ein – wenn auch nachwirkendes – Relikt der Vergangenheit:

Wenn diese Mentalität einigen Experten verständlich ist, liegt es daran, dass sie über weite Strecken der Geschichte hinweg der Standard war. (…) Die frühe US-Außenpolitik basierte auf der Monroe-Doktrin, die den europäischen Mächten sagte, sie sollten sich aus der "neuen Welt" heraushalten.

Monroe-Doktrin "relevant wie an dem Tag, an dem sie geschrieben wurde"

Man fragt sich, wo der Verfasser der zitierten Zeilen die letzten Jahre verbracht hat. Tatsächlich nämlich betrachten die USA seit den Trump-Jahren und bis in die Biden-Regierung hinein Lateinamerika und die Karibik mehr denn je als ihren Hinterhof, halten ein Netz aus Militärbasen aufrecht, intervenieren mit Armee und Geheimdiensten wie in Kolumbien, halten eine völkerrechtswidrige Blockade gegen Kuba aufrecht und arbeiten offen auf den Sturz von Regierungen hin.

Heute, 2022, scheint es als Ausrutscher der Geschichte, dass der damalige US-Außenminister John Kerry im Jahr 2013 ein Ende der Monroe-Doktrin von 1823 bekannt gab, die "Amerika den Amerikanern" sichern sollte.

2018 jedenfalls bekräftigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an der University of Texas das Recht der USA, jede Einmischung dritter Staaten in der "Hemisphäre" abzuwehren. Dieses Recht sei "heute genauso relevant wie an dem Tag, an dem sie geschrieben wurde", fügte er hinzu.

Und da sind wir mittendrin in der Realität bestehender Einflusssphären. Das weiß natürlich auch die russische Regierung, weshalb Rjabkow nach dem vorläufigen Scheitern der Verhandlungen mit dem Westen über Sicherheitsgarantien Maßnahmen wie die Verlegung russischen Militärs nach Kuba und Venezuela ins Spiel brachte.

Er wolle dahingehend "nichts bestätigen (...) oder ausschließen", sagte Rjabkow in einem Interview mit dem russischen Fernsehsender RTVi. Putins Sprecher Dmitri Peskow legte am heutigen Montag nach: Russland ziehe verschiedene Optionen in Betracht, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten.

Wenig erfreut reagierte Admiral Robert Bauer, der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, als er von Journalisten auf entsprechende Überlegungen in Moskau angesprochen wurde:

Dies sind keine Nato-Territorien, wenn wir über Venezuela und Kuba sprechen, aber ich denke, es gibt Staaten, Verbündete, die sich Sorgen über diese Entwicklung machen würden.

Apropos Karthago

Der Verlauf der Debatte im Westen zeigt das Maß an Realitätsverweigerung, mit der hiesige Akteure der Bildung einer multipolaren Weltordnung begegnen. Das ist umso verheerender, als dass Machtverschiebungen und -Neuaufteilungen in der Geschichte selten von hehren Zielen angetrieben wurden und leicht zu eskalieren angelegt waren.

Mitunter nimmt der westliche Blick auf die Umbrüche skurrile Formen an. Die US-Botschaft in London etwa veröffentlichte dieser Tage ein Kurzvideo zum Streit um die Zukunft der Ukraine, in dem es hieß: "Stellen Sie sich vor, dass Ihnen ein anderes Land Ihre Wirtschafts- und Sicherheitspolitik aufzwingen will."

Ob sich die US-Diplomaten in London für so viel Selbstkritik in Washington Rückendeckung geholt haben? Man weiß es nicht.

In dem Maße, in dem eine ehrliche Bestandsaufnahme in der Debatte über das westlich-russische Verhältnis fehlt, werden die Konsequenzen ausgeblendet. Denn – noch einmal – die Spannungen mit Moskau sind in erster Linie Ausdruck von Problemen der europäischen Sicherheitsarchitektur. Sie werden, sollten sie nicht gelöst werden, den europäischen Frieden erschüttern.

Die USA, die derzeit – oft mit deren Billigung – über die Köpfe europäischer Regierungen hinweg verhandeln, werden davon kaum betroffen sein.

Es ist daher beachtlich, wie wenig mäßigende Stimmen bei den Konfliktparteien in West wie Ost Gehör finden. Das gilt für Leitartikel in führenden US-Zeitungen wie der New York Times und der Washington Post, die auf die Doppelzüngigkeit der Diskussion verweisen und mahnen, russische Sicherheitsbedenken ernstzunehmen. Und das gilt gleichermaßen für Wortmeldungen von Militärs und Sicherheitsexperten, die ein Ende der Eskalationsspirale fordern.

Tatsächlich spielen die meisten relevanten Medien und Politiker weiter mit dem Feuer und bemühen möglichst abstrakte Vergleiche, um die Realität des Konfliktes nicht eingestehen zu müssen. Wie die Punischen Kriege eben. Zu denen allerdings hatte Bertolt Brecht einst in beunruhigender Aktualität bemerkt:

Das große Karthago führte drei Kriege./

Nach dem ersten war es noch mächtig./

Nach dem zweiten war es noch bewohnbar./

Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.