Neuer Autoritarismus: Exempel Tunesien

Die Demokratie steckt in einer tiefen Krise, von der Revolution fehlt jede Spur

Das verflixte zwölfte Jahr hatte keinen glücklichen Einstieg. Am zurückliegenden Freitag war es elf Jahre her, dass der langjährige Präsident (1987 bis 2011) Zine el-Abidine Ben Ali aus Tunis ins saudi-arabische Exil flog. Dort, in Dschidda, ist er vor nunmehr gut zwei Jahren auch verstorben.

Im Unterschied zu den vorigen Jahrestagen dieses ersten Höhepunkts des "Arabischen Frühlings" von 2011, die – jedenfalls in Tunesien – von einer zwar chaotischen, aber einigermaßen funktionierenden, neu eingerichteten Demokratie und zugleich von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt waren, fand der diesjährige unter veränderten politischen Bedingungen statt. Nach Jahren versuchter Konsolidierung eine aufgrund sozio-ökonomischer Verwerfungserscheinungen kriselnden Demokratie steht der Januar 2022, auch in Tunesien, im Zeichen eines neuen Autoritarismus.

Ein Anzeichen dafür war, dass alle Demonstrationen in Tunis in diesem Jahr verboten waren – unter dem durchsichtigen Vorwand der Corona-Pandemie – ; zwischen 1.000 und 3.000 Menschen, je nach Angaben, kamen dennoch zusammen und wurden mit Polizeiknüppeln und Wasserwerfern auseinandergetrieben. Es kam zu zehn Festnahmen. Auch ausländische Pressekorrespondenten wurden nicht verschont.

Zwanzig Angriffe auf Journalisten wurden verzeichnet, und der seit sechs Jahren in Tunesien arbeitende Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération wurde durch die Polizei zusammengedroschen. Zwanzig tunesische Nichtregierungsorganisationen protestierten energisch gegen die Repression.

Möglicherweise forderte dieses auch einen Toten. Jedenfalls ermittelt inzwischen die tunesische Justiz wegen eines "verdächtigen Todesfalls"; es geht um einen 57-jährigen Zahnarzt aus der Stadt Sousse, mit Namen Ridha Bouzayane. Er war nach der Auflösung der Demonstration bewusstlos aufgefunden worden.

Vorliegenden Informationen zufolge gehörte er einem Kollektiv von "Bürgern gegen den Putsch" an. Die islamistische Partei En-Nahdha bezeichnet ihn inzwischen als "Mordopfer" und spricht davon, er sei fünf Tage lang auf einer Intensivstation verblieben und an Hirnblutung verstorben; es scheint sich bei dem Toten um einen Sympathisanten dieser Partei gehandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft behauptet derweil, keine äußeren Spuren von Gewaltanwendung an dessen Leiche gefunden zu haben.

Beinahe zeitgleich legte die internationale NGO Reporter ohne Grenzen, französisch RSF abgekürzt, einen kritischen Bericht zum derzeitigen Zustand der Pressefreiheit in Tunesien vor. Die Nichtregierungsorganisation hatte bereits im September 2021 gegen jüngste Übergriffe staatlicher Organe auf Presseschaffende protestiert.

Es ging konkret um gewaltsames polizeiliches Vorgehen gegen neun Journalisten anlässlich einer Demonstration in Tunis am 1. September. In der Vergangenheit hatte RSF sich bereits gegen die Ben ‘Ali-Diktatur und ihr Vorgehen gegen die Arbeit der Presse positioniert (vgl. ein Beispiel aus dem Jahr 2001: In jenem Jahr wurde Reporter ohne Grenzen daraufhin durch die Diktatur aus Tunesien ausgewiesen).

Rückkehr zum autoritären Präsidialsystem

Der Präsident Kaïs Saïed übernimmt die exekutiven Vollmachten der Regierung, schasst den Premier – und wenige Tage später auch den Verteidigungs- sowie den Finanzminister und über zwanzig andere hohe Staatsfunktionäre.

Er schickt das Parlament für vorerst dreißig Tage nach Hause – der Beschluss ist verlängerbar (und wird auch verlängert werden!) – und hebt die parlamentarische Immunität der Abgeordneten auf, tauscht den Vorsitzenden der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt aus, verhängt eine Ausgangssperre ab 19 Uhr (diese wird nach einigen Tagen auf 22 Uhr hinausgeschoben) und lässt im Internet durch seine Büroleiterin kuriose Songs zu seinem persönlichen Ruhm veröffentlichen.

So lässt sich die Situation kurz zusammenfassen, die in Tunesien durch eine Krisensitzung im Präsidialamt am Abend des 25. Juli 2021 eingeleitet wurde.

Über zwei Monate lange blieb Tunesien ganz ohne Regierungschef(in), und der Staatspräsident regelte die wichtigsten Regierungsgeschäfte unmittelbar selbst.

Erst am 11. Oktober 2021 wurde eine neue Premierministerin vereidigt, die Ingenieurin Najla Bouden – die erste Frau in diesem Amt, was man als wichtigen symbolischen Fortschritt auslegen kann, allerdings auch fast ohne eigene Macht. Denn alle maßgeblichen Entscheidungen trifft der Staatspräsident nach wie vor selbst.

Kurz zuvor hatte Anfang Oktober 2021 erstmals eine größere Demonstration mit mehreren Tausend Menschen, mindestens 6.000, gegen die Amtsführung von Präsident Kaïs Saïed und den "institutionellen Putsch" stattgefunden.

Zuvor fanden hauptsächlich mehr oder minder kleine Demonstrationen für und gegen die Beschlüsse des Präsidenten gleichermaßen statt. Manche; vor allem die Kritiker – das liegt in der Natur der Sache –, sprechen von einem "Putsch". Sofern der Ausdruck zutrifft, erfolgte er allerdings nicht außergesetzlich, da die im Februar 2014 in Kraft getretene Verfassung eine solche Konzentration der Vollmachten im Krisenfall und für vorübergehende Zeit zulässt.

Dies, obwohl die Verfassung von 2014 deutlich weniger auf ein Präsidialsystem zugeschnitten ist als die vorherigen Texte, die den beiden Langzeitpräsidenten Habib Bourguiba (1956/57 bis 1987) und Zine el-Abidine Ben Ali (1987 bis 2011) auf den Leib geschnitten waren.

Habib Bourguiba / Zine el-Abidine Ben Ali / Kaïs Saïed. Bilder: Habib Osman, Public Domain / Presidencia de la Nación Argentina, CC-BY-2.0 / Houcemmzough, CC-BY-SA-4.0

Dennoch wollte die jüngste Verfassung, die infolge der Umbrüche von 2011 in Tunesien und Nordafrika angenommen worden war und ein stärker parlamentarisch ausgerichtetes Regierungssystem vorsieht, eine institutionelle Lösung für mögliche Pattsituationen anbieten – solche, bei denen der Staatschef einerseits, die Parlamentsmehrheit und/oder die aus ihr hervorgegangene und von ihr kontrollierte Regierung andererseits einander blockieren.

Zugleich entspringt die seit Monaten ausgebrochene Krise einigen der Schwächen eben dieser Verfassung. Nicht nur, dass diese, obwohl sie das alte autoritäre Präsidialsystem überwunden helfen sollte, nach wie vor ein direkt vom Volk gewähltes Staatsoberhaupt mit vergleichsweise starker Stellung beinhaltet.

Sie sieht ferner keine Verfassungsgerichtsbarkeit vor, die bei einer Krise zwischen den führenden Institutionen des Landes einspringen und – als eine Art Schiedsrichter wirkend – die jeweiligen Grenzen ihrer Rolle definieren könnte, wie dies etwa im französischen Präsidialsystem immer wieder erfolgt.

Genauer, theoretisch behandelt die Verfassung die Konturen eines Verfassungsgerichts, das jedoch nie eingerichtet wurde, da die führenden Parteien in der Verfassungsgebenden Versammlung (2011 und 2014) und später ihm – diese drei Jahre später ablösenden – Parlament sich nicht über dessen Besetzung einigen konnten.

Vor diesem Hintergrund regierten denn auch die jeweils im Oktober 2019 gewählten und aus nicht deckungsgleichen politischen Mehrheiten entstammenden Spitzen der Exekutive, Präsident Kaïes Saied einerseits und eine heterogen zusammengestückelte Parlamentskoalition auf der anderen Seite, munter drauf los, jedoch in oft entgegen gesetzter Richtung.

Als Premierminister der Kraut-und-Rüben-Koalition amtierte seit September 2020 der damals 46-jährige Technokrat und frühere hohe Beamte Hichem Mechichi, den Saïed nun im vorigen Hochsommer entließ. Sein Vorgänger Elyes Fakhfakh hatte im Hochsommer 2020 aufgrund wirtschaftlicher "Interessenkonflikte" seinen Hut nehmen müssen, was damals bereits eine Regierungskrise beinahe epischen Ausmaßes auslöse.

Konflikte und Korruptionsverdächtigungen wurden auch danach nicht ausgeräumt. Im Gegenteil. Nicht nur, dass viele Fraktionen und Interessengruppen in dem ziemlich zersplitterten Parlament vor allem für die Rechnung ihrer jeweiligen, z.T. eng zugeschnittenen Klientelgruppe tätig scheinen.

Auch Minister oder Ministerpostenkandidaten bleiben von einem solchen Verdacht keinesfalls verschont. Schon seit Anfang 2021 verweigerte das Staatsoberhaupt die Ernennung mehrerer Minister, die die damals regierende Koalition ausgewählt hatte. Neun Kabinettsmitglieder konnten deswegen nur kommissarisch amtieren und als Übergangsminister ohne offiziellen staatlichen Titel die laufenden Geschäfte erledigen.

Saïed selbst strebte und strebt erklärtermaßen nach einer noch stärker präsidialen Ausrichtung der Regierung, einer Überwindung des Parteiensystems und dessen Ersetzung durch per Mehrheitswahlrecht gewählte lokale Repräsentanten, die ein neues Regierungssystem außerhalb der Parteien errichten sollen.

Die Parteien

Politische Parteien spalten ihm zufolge nur das Volk, innerhalb dessen Interessenvertretung deshalb aufgrund lokaler und regionaler Grundlage erfolgen soll, nicht entlang ideologischer oder interessenverbandsmäßig organisierter Trennlinien.

Manche lokalen Beobachter verglichen dieses Ansinnen mit der einstigen Vorstellung von "Basisherrschaft" eines Muammar Al-Qadhafi (eingedeutscht: Gaddafi) im Nachbarstaat Libyen; Letzterer hatte ab 1975 alle politischen Parteien, inklusive der seinigen, verboten und stattdessen "Volkskomitees" ausgerufen.

Auf örtlicher Ebene widerspiegelten diese dann, in Ermangelung von Parteien, unabhängigen Gewerkschaften oder Organisationen der Zivilgesellschaft, meist überkommene Clan- und Stammesstrukturen. Allerdings lässt sich die tunesische Regierung nicht mit dem Gaddafi-Regime vergleichen, ihr fehlt sowohl dessen offene Brutalität und Gewaltaffinität als auch dessen zeitweilige revolutionär klingende Rhetorik.

(Nichtsdestotrotz und ungeachtet solcher Unterschiede hatten sich Tunesien unter Bourguiba und Libyen unter Gaddafi in den Siebzigerjahren rund zwei Jahre lang zu einem Einheitsstaat zusammengeschlossen, bevor das Fusionsprodukt wieder auseinanderfiel, ähnlich wie frühere Vereinigungsversuche etwa zwischen Ägypten und Syrien zwischen 1958 und 1961.)

Was die Parlamentskoalition betrifft, die Mechichi 2020 ins Amt gestimmt hatte, basierte dieses besonders aus drei Parteien, die vieles unterschied: die dereinst den Muslimbrüdern nahe stehende, doch in viele jenseits ihrer Ideologie liegende innenpolitische Kompromisse involvierte Partei En-Nahdha ("Wiedergeburt") mit 54 von insgesamt 217 Sitzen, die "Koalition Karama (Würde)" mit – je nach Stand ihrer Spaltungen – 17 bis 20 Mandaten sowie die Formation Qalb Tounès ("Herz Tunesiens") mit 38 Abgeordneten.

Die Letztgenannte ist die personenzentrierte Partei des populistischen Sunny Boys, windigen Geschäftsmanns und Berlusconi-Verschnitts Nabil Karoui, er wurde bei der letzten Präsidentschaftswahl Zweiter.

Karama wiederum ist eine radikalislamistische Partei, die vorwiegend salafistische Ideologieelemente mit einigen nationalistischen Versatzstücken kombiniert. Dass letztere Partei etwa den Vorsitz im Verteidigungsausschuss des 2019 neu gewählten tunesischen Parlaments erhielt, konnte nicht als unproblematisch gelten, zumal manche ihrer Abgeordneten auch nachweisliche Verbindungen mit Personen hielten, die mit einem behördlichen Ausreiseverbot belegt waren – nicht, weil ihnen eine übergroße Neigung zu Butterfahrten vorgeworfen wurde, sondern weil der Verdacht nahe lag, auf dem Reiseprogramm könnte gegebenenfalls das Absäbeln von Köpfen in Syrien stehen.

Karama-Chef Seifeddine Makhlouf wurde etwa vorgeworfen, eine solche Person 2020 mit einem Besucherstatus ins Parlament eingeladen zu haben. Zu einem weiteren Zwischenfall kam es im März 2021, als Makhlouf und zwei seiner Parlamentskollegen am Flughafen von Tunis in Begleitung einer ebenfalls mit einem solchen Ausreiseverbot belegten Dame kontrolliert wurden.

Daraufhin ermittelte die Militärjustiz, ihre Untersuchung wurde jedoch durch die strafrechtliche Immunität der Abgeordneten blockiert. Nun fiel diese Immunität seit Ende Juli 2021. Entsprechend wurden nun wieder Justizermittlungen gegen Karama-Abgeordnete aufgenommen. Aber auch der parteiunabhängige Parlamentarier Yassine Ayari wurde im Zusammenhang mit dieser Immunitätsaufhebung festgenommen.

Ihm wurde 2018 Kritik an der Armee als "Beleidigung" vorgeworfen. Eine daraufhin erfolgte gerichtliche Verurteilung zu zwei Monaten Haft (ohne Bewährung) blieb bis dato aufgrund seines Abgeordnetenstatus ausgesetzt. Deswegen er Anfang August 21 inhaftiert. Daran übten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty international scharfe Kritik.

Durchaus eine gewisse Popularität

In den letzten Monaten behielt Präsident Kaïs Saïed durchaus in relevanten Teilen der Bevölkerung, auch in ihrer Jugend, zunächst durchaus eine gewisse Popularität bei. Glaubt man jedenfalls den veröffentlichten Umfragen, so sank diese kurz vor dem Jahreswechsel 2021/22 ab, blieb jedoch noch immer bei rund zwei Dritteln positiven Meinungen.

Gleichzeitig standen Stützpfeiler des Staates wie die Armee – diese ist in Tunesien, im Vergleich etwa zu Algerien und Ägypten, politisch eher schwach, da Bourguiba sie seit der Unabhängigkeit aus Angst vor einem Militärputsch kurz hielt und sein Nachfolger Ben Ali eher den Polizeistaat als die Armee ausbaute –, aber auch eine zentrale gesellschaftliche Institution wie der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT bei der laufenden innenpolitischen Auseinandersetzung eher aufseiten von Präsident Saïed.

Die UGTT beispielsweise mochte dessen (von Anderen so bezeichneten) "institutionellen Putsch" nicht rundheraus verurteilen, forderte aber zugleich alsbald nach dem 25. Juli die Ernennung eines neuen Premierministers – er wurde dann eine Premierministerin –, um mit ihm oder ihr über die Inhalte ihrer sozialen Agenda zu diskutieren. Dies bedeutete implizit eine Nichtanerkennung der Tatsache, dass Staatspräsident Saïed selbst quasi wie ein Regierungschef agieren sollte, ohne diesen aber frontal zu konfrontieren.