Die Atombombe war eine Zäsur für die Grundlagenwissenschaft der Physik

Alexander Unzicker im Gespräch über seine These, dass mit dem Zweiten Weltkrieg, der Entwicklung der Atombombe, dem Aufstieg der USA und der Militarisierung der Forschung in der Wissenschaft die Grundlagenforschung verloren gegangen ist

Sie haben gerade ein neues Buch geschrieben mit dem Titel "Einsteins Albtraum". Sie gehen davon aus, dass irgendwann mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Aufstieg der USA etwas in der Wissenschaft verloren gegangen ist, was Sie Grundlagenforschung nennen. Sie bringen das auch mit der Entwicklung der Atombombe und der Computertechnik und dem Wissenschaftsbetrieb zusammen, der in den USA entstanden ist. Was würde denn für Sie eine Grundlagenwissenschaft kennzeichnen?

Alexander Unzicker: Grundlagenwissenschaft behandelt die großen Fragen, wie die Welt, wie die Natur funktioniert. Was sind genau Elementarteilchen? Welche Eigenschaften haben sie? Was sind Naturkonstanten? Das sind ganz elementare Fragen, die die Physiker wie Einstein, Erwin Schrödinger oder Paul Dirac vor hundert Jahren umgetrieben haben.

Da spielt auch der Gedanke der Einfachheit rein, also dass gute, vernünftige Naturgesetze sich immer als einfach herausgestellt haben. Danach haben die Wissenschaftler damals gesucht. Das ist die Art und Weise, die ich favorisiere und wie man meines Erachtens an Erkenntnisse herankommt.

Aber das ist nicht nur mein persönlicher Geschmack, weil in der Wissenschaftsgeschichte die echten Durchbrüche immer dann erzielt wurden, wenn man etwas vereinigt hat. Heinrich Hertz hat beispielsweise 1886 nachgewiesen, dass elektromagnetische Wellen nichts anderes als Licht sind.

Das war im Sinne der Naturkonstanten eine große Vereinfachung und ein riesiger Fortschritt. Man stelle sich unsere heutige Zivilisation einmal ohne diese Erkenntnis vor. Das ist, was ich unter Naturgesetzen verstehe, was man eigentlich machen müsste.

Nun wird doch eigentlich immer viel gefunden. Man sucht nach neuen Teilchen, es werden immer größere Beschleuniger gebaut, es heißt, man komme der Wahrheit immer näher. Und die Teilchenphysik hat auch keinen direkten praktischen Nutzen, sondern ist doch auch eine Art von Grundlagenwissenschaft, die mit hohem technischem Aufwand betrieben wird.

Alexander Unzicker: Man muss unterscheiden, wenn man sagt, es hat keinen praktischen Nutzen. Ja, erst mal nicht. Es ist richtig, Heinrich Hertz wollte nicht ein Handy erfinden, sondern er war einfach nur neugierig. Aber echte Entdeckungen haben tatsächlich auch immer in der Folge praktischen Nutzen.

Und wenn die Dinge so wenig praktischen Nutzen haben wie diese Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, muss man sich schon fragen, ob man dann nicht nur versucht, theoretische Wunschvorstellungen mit allen Mitteln hineinzuinterpretieren. Jetzt kann man natürlich sagen, es gibt Entdeckungen und Pressekonferenzen und Nobelpreise. Aber da ist natürlich schon sehr viel PR dabei, wenn jetzt zum Beispiel wieder für den neuen Beschleuniger getrommelt wird, weil er eventuell Hinweise auf irgendetwas liefern könnte.

Viele Leute sehen auch, dass das nicht wirklich vernünftig ist. Sabine Hossenfelder, eine bekannte Physikerin, kritisiert zum Beispiel diesen neuen Teilchenbeschleuniger oder auch diese etwas abgehobenen mathematischen Theorien, die man dabei verfolgt. Das passt doch nicht zusammen. Was haben wir rausgekriegt? Sind diese Milliarden wirklich gut investiert? Was wollen die Wissenschaftler herausfinden? Das sind ganz einfache Fragen, die auch schon gestellt und unter Physikern diskutiert werden.

Mir persönlich war es wichtig, einen historischen Blick darauf zu werfen, weil man das Ganze erst richtig versteht, wenn man das in der Entwicklung sieht. Die Atombombe war insofern eine Zäsur, weil die Theoretische Physik nach dem Krieg praktisch neu gestartet wurde.

Wenn man die großen Konferenzen anschaut, dann gab es 1927 die berühmte Solvay-Konferenz, wo man die die schwierigsten Probleme damals diskutiert hat. 1947, nach dem Krieg, gab es eine vergleichbare Konferenz, die Shelter Island Konferenz über die Grundlagen der Quantenmechanik, aber praktisch keiner der früheren Physiker war mehr dabei. Es waren völlig andere Leute, die das Sagen hatten, und es war auch eine völlig andere Art der Wissenschaft.

Nach dem Krieg waren diejenigen, die vorher die wesentliche Erkenntnisse herausbekommen haben, wie Einstein, Schrödinger oder Dirac, abgemeldet, die neuen Herren waren praktisch diejenigen, die die Atombombe gebaut haben oder daran beteiligt waren wie Fermi, Compton, Lawrence und so weiter. Wenn man das sieht, dann erschrickt man eigentlich und fragt: Moment mal, wo ist denn eigentlich die Theoretische Physik, wo ist diese Art der Fragestellung durch diesen großen Einschnitt eigentlich hingekommen?

Wir sprechen jetzt im Hinblick auf Grundlagenforschung nur über die Physik, also nicht über Chemie oder über Biologie oder andere Wissenschaften?

Alexander Unzicker: Ich beschäftige mich mit den Grundlagen der Physik, insofern habe ich nicht die Autorität, über Biologie oder Chemie zu reden. Bei dem, was ich recherchiert habe, geht es aber auch um die Herangehensweise. Welche Fragen stelle ich mir? Auf welche Art und Weise betreibe ich Wissenschaft? Und da gibt es schon einige Parallelen, sogar auch über die Wissenschaft hinausgehend, die mit dieser unterschiedlichen Denkweise zu tun haben. Aber zuerst geht es mir schon um die Grundlagenwissenschaft Physik.

Eigentlich war es doch so, dass mit dem Zweiten Weltkrieg und mit der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler die europäische Wissenschaft in die USA umgesiedelt ist. Die Wissenschaftler sind ja auch geholt worden, um beispielsweise die Raketentechnik zu entwickeln. Warum hat es für Sie trotzdem einen Umbruch gegeben, obwohl weiterhin europäische Wissenschaftler mit ihrem europäischen Hintergrund im Spiel waren?

Alexander Unzicker: Die große Katastrophe war die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die natürlich nicht an Grundlagenforschung interessiert waren, sondern nur an Waffen. Man muss sich klarmachen, dass Europa, speziell Deutschland, das Zentrum der Naturwissenschaften war, da waren einfach die besten Theoretiker.

Die ganze Atomphysik ist hier entwickelt worden - unter wesentlicher Beteiligung jüdischer Wissenschaftler. Damals in Berlin waren vier Prozent der Bevölkerung, zehn Prozent der Wissenschaftler jüdischer Abstammung. Ein Wissenschaftler wie Edward Teller ist aufgrund von Antisemitismus in Ungarn nach Deutschland gekommen und hat in Karlsruhe studiert. Es war ein Wissenschaftszentrum aus vielen Nationen mit einem offenen Geist, das zerstört worden ist. Das war eine enorme Tragik.

Und Sie haben recht, die allermeisten sind als Einzelpersonen dann in die USA ausgewandert, unter anderem Einstein, der als pars pro toto für alle steht. Aber es geht ja nicht um die Personen und auch nicht um die Nationalitäten, sondern um die Denkkultur. Wie stelle ich Fragen? Stelle ich sie in der Art und Weise von Einstein oder von Ernst Mach, die wirklich herauskriegen wollten, was die Ursache der Gravitation ist?

Oder stelle ich sie in der Art und Weise, wie etwas funktioniert, wie kriege jetzt beispielsweise die kritische Masse von Uran oder wie beschreibe ich das Modell der Elementarteilchen mit ein paar Zahlen? Das ist praktisch und anwendungsorientiert.

Es geht um diese Kultur, die in den USA neu entstanden ist. Natürlich sind die Wissenschaftler ausgewandert, aber die naturphilosophisch orientierten Physiker aus Europa wurden nicht mehr als Autorität angesehen. Keiner der amerikanischen Teilchenphysiker der Nachkriegszeit ist zu Einstein nach Princeton gefahren, um mit ihm eine Idee zu diskutieren.

In Europa ist jeder Theoretiker, der etwas herausgefunden hat, erst einmal zu Einstein oder zu Niels Bohr gegangen, um mit ihm zu diskutieren. Diese Kultur ist völlig verloren gegangen. Der Grund liegt, wie ich glaube, in dieser Oberflächlichkeit, die heute in der Physik Einzug gehalten hat.