Korrumpierte Physik

Cern, Genf. Bild: Torbjorn Toby Jorgensen/CC BY-SA 2.0

Der Verlust der Wahrhaftigkeit

Nimmt man Aufrichtigkeit weg, bleibt nichts mehr übrig von Wissenschaft.

Harry Collins

Auch wenn es altmodisch klingen mag: Wissenschaft ist kein Ge- werbe, sie benötigt Idealismus. Wissenschaft ohne Ehrlichkeit ist nicht nur schlechte Wissenschaft, es ist überhaupt keine mehr. Denn sie ist definiert als die Suche nach der Wahrheit. Um diese ist es heute nicht mehr gut bestellt.

Damit sind nicht in erster Linie Betrügereien gemeint wie jene von Emil Rupp, der in den 1920er Jahren aufflog, indem er einen Rechenfehler Einsteins experimentell bestätigte, oder von Jan-Hendrik Schön, der bis zur Enttarnung seiner Fälschungen im Jahr 2002 als Shootingstar der Nanophysik galt. Diese Vorkommnisse sind zwar wissenschaftssoziologisch aufschlussreich, stellen aber nicht den Kern dessen dar, worunter die Grundlagenphysik leidet. Verlust der Wahrhaftigkeit bedeutet vielmehr, dass gar nicht mehr ernsthaft nach Erkenntnis gesucht wird.

Betrüger müssen die Entdeckung fürchten, und gehen insofern sogar ein adäquates Risiko für den erschlichenen wissenschaftlichen Ruhm ein. Mehr zur Erosion der Wissenschaft tragen jene Forscher bei, die oberflächlich Regeln befolgen, sich aber nicht wirklich der Erforschung der Natur verpflichtet fühlen.

Dies ist ein schwerwiegender Verstoß gegen wissenschaftliche Ethik. Legt man diese streng aus – etwas anderes wäre mit Blick auf die Entdecker der letzten vierhundert Jahre nicht ange- messen –, handelt es sich dabei um das Streben nach Erkenntnis über die Naturgesetze, das frei von anderen Interessen ist.

Wahrheitssucher und Mittelbeschaffer

Wissenschaftler sind normalerweise zu vorsichtig, glatte Lügen zu erzählen oder Daten zu fälschen; aber sie treiben es immer weiter im Herauspicken, Übertreiben und Verdrehen ihrer Ergebnisse.

Bruce G. Charlton

Kaum etwas könnte diesem Ideal ferner liegen als der heutige Wissenschaftsbetrieb. Alarmierend ist die Anzahl der Arbeiten, die nicht mehr reproduzierbar sind – schon hier nehmen es viele offenbar nicht so genau. Zudem arbeiten heute sehr viele Forscher an Projekten, von denen sie nicht überzeugt sind. Ihnen ist bewusst, dass sie weder praktischen Nutzen haben noch zu neuen Erkenntnissen führen. Sie glauben dabei selbst nicht an die Versprechungen, die sie in ihre Forschungsanträge schreiben, und kennen ziemlich genau die geschönten Stellen.1

Ihre eigene Forschung würden sie niemals mit eigenem Geld bezahlen. Diese unangenehmen Wahrheiten hat Bruce G. Charlton2, ein Kenner des modernen Wissenschaftsbetriebs, in seinem Buch Not Even Trying ausgeführt. Er meint mit dem Titel: Sie versuchen nicht einmal mehr, sich an der Wahrheit zu orientieren.

Dies ist ein Ausschnitt aus dem eben im Westend Verlag erschienenen Buch des Autors: Einsteins Albtraum. Amerikas Aufstieg und der Niedergang der Physik.

Nimmt man genuine Wahrheitssuche als Maßstab, ist viel von der institutionalisierten Wissenschaft von heute durch und durch unehrlich. Dies ist eigentlich auch jedem bewusst. In stillschweigender Übereinkunft wird jedoch viel toleriert, solange es bestimmten Regeln folgt, an die die Finanzierung geknüpft ist.

Das Streben nach der Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz.

Gotthold Ephraim Lessing

Eine moralische Grundlage ist für Wissenschaftler unabdingbar. Es müsste in der Grundlagenwissenschaft eigentlich einen "Hippokratischen Eid" geben, sobald man sich für diesen Lebensweg, der ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl erfordert, entscheidet. Gleichzeitig sollten Individuen möglichst unabhängig von Institutionen werden und nur der Wahrheitssuche verpflichtet sein. Dies zu realisieren, scheint schwierig, umso mehr in der heutigen Kultur, in der sich Ansehen immer mehr über das Einkommen definiert.

Schamlose Schaumschläger

Manchen, wie vielleicht David Gross oder Edward Witten, mag man zugestehen, dass sie sich in ihren selbstzufriedenen Kreisen um die eigenen Theorien als Wahrheitssucher sehen. Die Mehrheit der modernen Berühmtheiten nimmt jedoch ihre Privilegien als selbstverständlich wahr und würde so etwas wie eine Verantwortung oder gar Verpflichtung zur Wahrheitssuche als fremdartig empfinden.

Ich betrachte reale Wissenschaft – die ich verehrte – als ein Ding der Vergangenheit.

Bruce G. Charlton

Als der Theoretiker Alan Guth 1979 seine ehrgeizige, aber völlig abgehobene Spekulation der "kosmischen Inflation" propagierte, bemerkte sein Kollege Lenard Susskind dazu: "Weißt du, das Merkwürdigste daran ist, dass wir für diese Dinge auch noch bezahlt werden." Solche Äußerungen rufen oft Schmunzeln hervor und mögen sympathisch-selbstironisch klingen, offenbaren jedoch einen gravierenden Mangel an Ernst, der unter den Physikern Anfang des 20. Jahrhunderts noch zum Berufsethos gehörte – obwohl diese durchaus humorvoll miteinander umgingen. Aber es wäre ihnen nie eingefallen, damit zu kokettieren, wie absurd eine Idee klingt. Absurd zu klingen, ist zu einem Markenzeichen moderner Physik geworden, sobald sie sich als kreativ gerieren will.

Darüber ist es Usus geworden, die Absurditäten zu kaschieren, indem man sie ungeniert anspricht, so wie zum Beispiel Arkami-Hamed: "Es gibt kein Experiment und man sitzt herum und re-det über Schönheit und mathematische Eleganz. Scheint also alles soziologischer Quatsch." Und er kommt mit der Frechheit durch. Einmal leichthin ausgesprochen, hat er sich von dem durchaus berechtigten Vorwurf entlastet und hält selbstbewusst Vorträge über die "Moralität in der fundamentalen Physik".

Arkami-Hamed oder andere publikumswirksame Theoretiker wie Brian Greene äußern sich manchmal freimütig über die Möglichkeit, es könne gut sein, dass alles, womit sie sich beschäftigen, Unsinn sei. Dies ist nicht so selbstreflektiert wie es klingt, denn man gesteht diesen realistischen Verdacht üblicherweise nur sich selbst, den Experten, zu, jedoch nicht jemandem außerhalb der Community. Vor allem aber offenbart so eine Haltung ein Fehlen der Verantwortung, die jeder wirklich wahrheitssuchende Forscher spüren sollte.

Wir müssen diesen Collider bauen, weil wir es können.

Nima Arkami-Hamed, 2020

Es ist diesen Leuten egal, wie viele Mittel die Gesellschaft für ihre Privilegien bereitstellt, in dem guten Glauben, etwas für den langfristigen Fortgang der Zivilisation zu tun. Es ist ihnen egal, wenn aufgrund ihrer halbgaren Spekulationen Milliardeninvestitionen getätigt werden, die ein erhebliches technisches und intellektuelles Potenzial der Mensch- heit binden. Ja, es könnte alles Blödsinn sein, sorry! Sie schämen sich für nichts.

Schweigen für Geld

Für eine Vielzahl der theoretischen Physiker ist es inzwischen vollkommen normal geworden, sich ein ganzes Berufsleben lang mit Dingen zu beschäftigen, von denen sie im Grunde spüren, dass es sich um reine Fiktionen handelt. Diese Unehrlichkeit wird auch nicht damit abgemildert, dass mancher Rechnungen in zehn Dimensionen oder in den ersten 10 -35 Sekunden faszinierend finden mag. Gegen die Beschäftigung mit abstrakter Mathematik ohne Realitätsbezug wäre als solche nichts einzuwenden, wenn dies kommuniziert würde und die Öffentlichkeit sich entscheiden könnte, bis zu welchem Grad sie solche Spielereien finanziert, anstatt wirklich grundlegenden Fragen der Natur nachzugehen.

Gerade mathematische Physiker korrumpieren sich in ihren Publikationen oder Anträgen jedoch oft durch den Hinweis auf die mögliche Anwendung in der Physik, obwohl sie genau wissen, dass es sich um ein Feigenblatt handelt. Für jeden mit Grundkenntnissen in der Wissenschaftstheorie ist der fehlende Bezug zum Experiment und damit die fehlende Falsifizierbarkeit ein offensichtlicher Beleg, dass es sich nicht um anständige Wissenschaft handelt. Deswegen wurden in den letzten Jahren sogar Versuche unternommen, die auf Karl Popper basierende Wissenschaftstheorie so umzuschreiben, dass sie endlich die Beschäftigung mit derartigem Unsinn erlaube.

Inzwischen werden Vorträge darüber gehalten, ob man Theorien auch "nicht-empirisch" bestätigen kann, und es finden Konferenzen darüber statt, wo man allen Ernstes diskutiert, wie man in Zukunft ohne das beschwerliche Kriterium der Evidenz auskommt: eine Renaissance der Mythologie, die sich immer noch Physik nennt.

Der Glaube wurde ersetzt durch Leichtgläubigkeit im Hinblick auf alles, was sich als Wissenschaft maskieren kann.

Nassim Taleb

Diese offenkundige Perversion der Methodik wirkt sich über die Wissenschaft hinaus nachteilig aus. Wenn nicht einmal mehr dort wirksame Abgrenzungen gegen Irrationalität existieren, ist der Erosion der modernen Gesellschaft durch jedwede Ideologie Tür und Tor geöffnet. Der Verzicht auf Evidenz erinnert im Übrigen an die Betrugsmaschen in großem Stil des Wirtschafts- und Finanzsystems, die durch entsprechende Lobbytätigkeit in der Gesetzgebung ja auch schon oft legal geworden sind. Nassim Taleb bezeichnet in seinem Bestseller "Der Schwarze Schwan" dieses Auseinanderfallen von Ethischem und Legalem als ein Kennzeichen der Moderne. Es scheint, dass in der Moderne institutionalisierte Forschung und Wahrheitssuche ebenso weit auseinanderfallen.