Auge um Auge

Rückblick auf 2.000 Jahre christlichen Antijudaismus. Bug oder Feature der dominierenden abendländischen Religion?

Wer zurzeit etwas über das Christentum hört, denkt vermutlich zuerst an Kindesmissbrauch, uneinsichtige Kirchenväter und Kirchenaustritte. Wer heute die Kirchen für ihre Vergangenheit kritisiert, provoziert kaum noch. Man wendet sich eher gelangweilt oder entnervt ab.

Auch die Christen leugnen mehrheitlich nicht mehr ihre zwei Jahrtausende währende Hetze gegen Juden, die zahllosen Pogrome vom frühen Mittelalter bis zur industriellen Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung im Europa in der Neuzeit.

Ist christlicher Antijudaismus also noch ein Thema? Muss man das Christentum und dessen Sünden angesichts zunehmender Säkularisierung Deutschlands noch erwähnen – oder ist religiös geprägter Antisemitismus, abgesehen von notorisch fanatischen Splittergruppen, obsolet?

Die Antwort ist leider nein – und man muss zudem fragen: Ist der christliche Antijudaismus ein Bug, also ein Fehler, der bereut und aufgearbeitet werden kann, oder gar ein Feature, ohne das das Christentum nicht das wäre, was es ist?

20 Jahre, nachdem Telepolis zum ersten Mal die damals verfügbaren Online-Quellen zusammengestellt hatte, sind die wichtigsten Fragen im gesellschaftlichen Diskurs immer noch nicht endgültig beantwortet, strittig oder werden gar nicht erst gestellt.

Basiert der antijüdischen Rassenwahn des Nationalsozialismus auf der christlichen Alltagskultur? Wirken antisemitische Bilder und Floskeln auch in einer zunehmend areligiösen Gesellschaft? Sind die Vorurteile und der Hass vieler Muslime gegen Juden nicht viel ernster zu nehmen? Warum gibt es in Ländern ohne größere christlichen Bevölkerungsgruppen wie etwa in China, Japan, Indien oder Vietnam kaum antisemitische Hetze, die gesellschaftlich relevant ist? Woher kommt Antisemitismus – muss man gar die Psychologie zu Hilfe nehmen?

Der Jurist und Autor Tilman Tarach hat vor kurzem ein faktenreiches Buch publiziert, das die Diskussion zusammenfassen will: Teuflische Allmacht – Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Man kann es als Standardwerk bezeichnen, was aber nicht viel heißt, da es, was etwas überrascht, immer noch kaum vergleichbare Werke gibt.


Tilman Tarach

Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus

Edition Telok, 224 Seiten, 14,80 €, ISBN: ‎ 978-3981348644


Antisemitismus entstammt dem Christentum

"Tatsächlich jedoch steht eine Aufarbeitung des christlichen Antisemitismus insgesamt aus", schreibt Tilman. Und das gilt vermutlich nicht nur für Deutschland, sondern auch und insbesondere für Polen – ein besonders prägnantes Beispiel für christlich basierten Antisemitismus bis heute – auch ohne Juden.

Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun.

Johannes 8

Ausnahmslos alle antisemitischen Klischees stammen aus christlichen Vorlagen und sickerten von dort auch in den Islam ein. Dass Juden "Kinder des Teufels seien", die Christus gekreuzigt hätte und deshalb schuldig, kann man noch heute bei Festspielen, in Kunst und Kultur jederzeit anhören oder sich anschauen - vom Judasverbrennen in Freiburg, über die Passionen von Johann Sebastian Bach bis zu "Die Passion Christi" von Mel Gibson. Gibson, dessen Film von evangelikalen Christen gefördert und gepriesen wurde, ist offener Antisemit:

Fucking Jews…. The Jews are responsible for all the wars in the word.

Schaut man als sich einigermaßen aufgeklärt fühlender Mensch die Quellen und Fundstellen an, die unter anderem in Tilman Tarachs Buch minutiös aufgelistet werden, bis in die Gegenwart, kann man kaum glauben, dass jemand ernsthaft meint, die Juden würde Kinder rituell ermorden.

Dennoch: Die britische Tageszeitung The Independent veröffentlichte zum Beispiel am 27. Januar 2003 eine Karikatur, die den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon zeigt, wie der ein "palästinensisches" Kind frisst.

Deutlicher kann man nicht zeigen, dass uralte christliche Klischees gegen die Juden, die unter der Oberfläche lauern, jederzeit reanimierbar sind, auch wenn der religiöse Bezug fehlt.

Wenn es um die aktuelle Situation in der Region Palästina geht, beobachtet man immer wieder einen Schulterschluss zwischen Christen und palästinensischen Terrororganisationen.