Nach der Revolte: Wie abhängig ist Kasachstan jetzt von Russland?

Verlor einen Teil seines Ansehens durch Einsatz von Gewalt: Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Archivbild: US Mission in Geneva / CC0 1.0

Für die politische Zukunft Kasachstans nach den dortigen Unruhen gibt es viele Unbekannte. Experten rechnen nicht mit einseitig prorussischem Regierungskurs

Für die meisten deutschsprachigen Medien war Kasachstan politisch ausschließlich in der Zeit der großen Unruhen kurz nach dem Jahreswechsel interessant. Nur ein großflächiger Stromausfall in dieser Woche, von dem auch Kirgistan und Usbekistan betroffen waren, machte noch ein paar Schlagzeilen.

Dabei wurde die politische Entwicklung im Land der Kasachen in Folge der Proteste und staatlichen Gegenreaktionen darauf maßgeblich beeinflusst, was auch von Journalisten und Experten in den Staaten Osteuropas und Asiens aufmerksam beobachtet wird.

Denn Kasachstan ist der größte der zentralasiatischen Staaten, die mitten im Spannungsfeld der eurasischen Großmächte Russland und China liegen. Während auf politischer Ebene die Kooperation mit Russland dominiert, läuft China wirtschaftlich dem russischen Einfluss allmählich den ersten Rang ab. Russland wird in Kasachstan praktisch jede Regierung unterstützen, meint die russische Zentralasien-Expertin Irina Kobrinskaja in der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta. Denn durch Kasachstan sichern sich die Russen einen besonderen Platz im nachsowjetischen Zentralasien.

Schwächung des Ansehens der Regierung

Für Russland ist es deshalb ein Problem, dass die kasachische Führung nicht unbedingt gestärkt aus den Unruhen hervorgeht. Zwar konnte Präsident Kassym-Schomart Tokajew die graue Eminenz des Landes, seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew, erfolgreich aus einer Reihe von Einflusspositionen vertreiben und ist somit erstmals nicht nur dem Namen nach die Nummer eins des Landes. Die offiziellen Zügel im Staat haben er und seine Regierung aktuell fest im Griff.

Allerdings haben sein Ansehen und das der herrschenden Klasse durch den Einsatz von Gewalt bei der Niederschlagung der Proteste im Land Schaden genommen. Dieses war bereits zuvor nicht besonders ausgeprägt. Die russische Journalistin Victoria Panfilowa sieht vor allem bei der herrschenden Regierungspartei Nur Otan ("Licht des Vaterlands") einen Hemmschuh für Tokajew.

Die Partei genieße im Volk kaum Vertrauen und könne ihre angedachte Rolle als Mittlerin zwischen der Regierung und dem Volk deswegen nicht ausüben. Zahlreiche Parteibüros wurden dagegen von Demonstranten in Brand gesetzt, seit Januar verlor sie zahlreiche Mitglieder.

Zusätzlich ist die Bevölkerung unzufrieden, dass recht wenig vom wirtschaftlichen Erfolg des Landes im Lebensstandard der meisten Menschen ankommt, meint ihr Kollege Artjom Dankow von der sibirischen Universität Tomsk. Trotz umfangreicher Rohstoffexporte sei das Lohnniveau niedriger als in den meisten Staaten Osteuropas.

In vielen Städten herrsche Wohnungsnot, im Süden des Landes grassiere eine hohe Arbeitslosigkeit. Dankows Einschätzung teil der Moskauer Zentralasienexperte Temur Umarow in der Wochenzeitung Der Freitag. Die herrschende Elite sei von der übrigen Gesellschaft getrennt und lebe in einer eigenen Blase.

Die "Zündschnur" in der kasachischen Gesellschaft

Kobrinskaja sieht im Vertrauensdefizit der Bevölkerung ein Problem, eine "Zündschnur", die noch in der kasachischen Gesellschaft liegt. Russland ist nach ihrer Meinung nur gewohnt, mit herrschenden Regierungen zu verhandeln und habe kein Gefühl für die "Seele der Gesellschaft" selbst ihrer nächsten Nachbarn. Und es sei jetzt durch sein Eingreifen auf dessen Seite untrennbar mit dem Erfolg von Tokajews Regierung verbunden.

Dass dies antirussische Gefühle unter Regierungsgegnern schaffen kann, zeigt sehr deutlich das vorangegangene Beispiel der Proteste in Belarus. Hier hatten die Gegner von Staatschef Alexander Lukaschenko zu Beginn ausdrücklich keine gegen Russland gerichtete Agenda. Als der Kreml jedoch dem weißrussischen Machthaber mit Taten den Rücken stärkte, warf sich dessen Gegnerschaft wiederum in die Arme des Westens und würde jetzt bei einer Machtübernahme ihr Land weg vom engen Bündnis mit Russland führen.

Russland griff zum Selbstschutz ein, nicht zur Machterweiterung

Das Motiv für das russische Eingreifen in Kasachstan war dabei nicht die Vergrößerung des eigenen Einflusses, wie das gelegentlich in großen deutschen Medien zu lesen ist. Temur Umarow sieht die Gründe in Angst um die eigene Sicherheit, falls das Nachbarland im Chaos versinke. Kasachstan und Russland haben die zweitlängste Landesgrenze der Welt. In weiten Teilen ist sie in keiner Weise gesichert und anhaltend chaotische Verhältnisse hätten umgehende Auswirkungen auf die russischen Nachbarregionen.

Umarow glaubt deswegen auch nicht an eine stärkere rein prorussische Tendenz in der Außenpolitik Kasachstans in den nächsten Jahren. Er hält es für fraglich, dass Russland über seine Hilfe ein neues Druckmittel gegenüber der kasachischen Regierung besitzt. Tatsächlich sind seit den Unruhen keine neuen zwischenstaatlichen Abkommen oder auch nur Absichtserklärungen entstanden, die diesen Schluss zuließen.

China: Bei Protesten unsichtbar, aber mächtig im Land

Einer der Gründe dafür ist die weiter große Bedeutung Chinas für Kasachstan. China hielt sich während der kasachischen Januarkrise demonstrativ zurück und spielte trotz des großen wirtschaftlichen Einflusses kaum eine Rolle.

Die chinesischen Interessen sind was die Verhinderung von Unruhen angeht, ähnlich wie die russischen und Russland wiederum kann die Wirtschaftskraft, die Peking bereitstellt, selbst nicht bieten. Kasachstan ist ein zentrales Gebiet für Chinas ambitioniertes Neues-Seidenstraßen-Projekt und Stabilität wichtig für dessen Gelingen. So sind die Interessen gemeinsam und Chinas Einfluss bleibt weiter im Wachsen begriffen

China hatte nur nicht die militärischen Ressourcen vor Ort, um etwa der kasachischen Regierung bei der Verhinderung von Unruhen zu helfen. Diese Rolle fiel deshalb automatisch Russland zu. Temur Umarow glaubt auch, dass bei der kasachischen Elite, deren Stellung durch die Proteste in Gefahr geriet, der Kreml ein weitaus größeres Vertrauen genießt, als etwa die Führung in Peking.

Er zitiert dabei den Sinologen Igor Denisow, der feststellt, dass Chinas diplomatische und nachrichtendienstliche Kanäle mit der enormen wirtschaftlichen Expansion der letzten Jahre nicht Schritt gehalten hätten. Peking werde Moskaus Einfluss in Zentralasien nicht so schnell einholen, auch wenn die Bedeutung der Chinesen vor Ort im Wachsen begriffen ist.

Gewalt-Provokateure: Islamisten und Kriminelle?

Der von der kasachischen Regierung postulierten Theorie, die Proteste oder ihr Umschlag in Gewalt wären aus dem Ausland initiiert gewesen, schenken Experten kaum noch Glauben. Kobrinskaja sieht diese Behauptung als "Propaganda-Schimäre", Umarow als "vage Anschuldigung", die nicht einmal die Herkunft der Provokateure benenne. Sie werde von den Mächtigen genutzt, um die Schuld nicht bei sich selbst suchen zu müssen.

Eine reale Gefahr dagegen ist für Kobrinskaja der radikale Islamismus im Land, der für enttäuschte Aufständische nun eine Zuflucht bieten könne. Dankow hält schon bei den aktuellen Gewalttaten durch Protestierende eine Beteiligung von islamistischen und kriminellen Gruppen für wahrscheinlich.

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