Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?

Brüssel will mit der Taxonomie Nuklearenergie als nachhaltig ausweisen. Das stellt die EU-Nachhaltigkeitskriterien grundsätzlich infrage

Der Vorstoß der EU-Kommission, Energie aus Atomkraft- und Gaskraftwerken als nachhaltig produzierte Energie bewerten zu lassen, sorgt derzeit für einige Debatten. Hiermit sollen die internationalen Finanzströme insbesondere in die Nuklearindustrie gelenkt werden. Der vorliegende Text analysiert und bewertet den Versuch, die bisherige EU-Nachhaltigkeitstaxonomie in diesem Sinne zu verändern, kritisch anhand der eigenen Kriterien Brüssels.

Nachhaltigkeit – eigentlich ein klarer Begriff

Nachhaltig ist eine Politik oder eine Unternehmensstrategie, wenn sie dazu beiträgt, dass den aktuellen und insbesondere den zukünftigen Generationen eine lebenswerte und bedürfnisgerechte Qualität ihrer existenziellen Bedingungen erhalten bzw. geschaffen wird, wie z.B. eine intakte Natur, eine stabile Friedensordnung oder eine gerechte Vermögensverteilung.

Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission) formulierte bereits 1987 in ihrem Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future1:

Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. It contains within it two key concepts:

  • the concept of 'needs', in particular the essential needs of the world's poor, to which overriding priority should be given; and
  • the idea of limitations imposed by the state of technology and social organization on the environment's ability to meet present and future needs.

Dies bedeutet, dass die Befriedigung der Bedürfnisse der jetzigen Generationen streng daraufhin zu prüfen ist, ob sie die existenziellen Möglichkeiten der zukünftigen Generationen einschränken. Hierbei wird bereits die Richtung zu einer an nachhaltiger Entwicklung orientierten Taxonomie beschritten, wenn im Brundtland-Bericht formuliert wird2:

In essence, sustainable development is a process of change in which the exploitation of resources, the direction of investments, the orientation of technological development and institutional change are all in harmony and enhance both current and future potential to meet human needs and aspirations.

Dies stellen eigentlich klare Vorgaben dar: Das Festhalten an oder die Entwicklung von umwelt- und menschenfeindlichen Technologien und industriellen Strategien verbieten sich hierdurch. Die an Nachhaltigkeit orientierte globale Entwicklung und entsprechende politische Maßnahmen haben hierbei insbesondere den Ausgleich von weltweiter Ungerechtigkeit bzw. die Besserstellung der unterprivilegierten Regionen der Welt zu berücksichtigen.

Dieses Nachhaltigkeitsverständnis ist von den Vereinten Nationen - aufgefächert nach verschiedenen Nachhaltigkeitsbereichen - verabschiedet und in den 17 Sustainable Development Goals (SDG) im Rahmen der Agenda 2030 fixiert worden.3

Es ist somit zwischen einem engeren und prioritär auf den ökologischen Aspekt bezogenem Verständnis von Nachhaltigkeit und einem erweiterten Verständnis zu unterscheiden, bei dem die ökologische Perspektive neben ökonomischen, politisch, sozialen und kulturellen Dimensionen der Nachhaltigkeit steht.

Die EU-Nachhaltigkeitstaxonomie fokussiert insbesondere die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, bezieht aber auch Nachhaltigkeitsperspektiven im erweiterten Sinne ein.

EU-Nachhaltigkeitstaxonomie – ursprünglich ein brauchbarer Ansatz

Die erst aktuell verstärkt in die öffentliche Kritik geratene EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie ist in einer früheren Version bereits 2020 entwickelt worden und hat die Funktion, auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit "das Potenzial des Binnenmarkts für die Verwirklichung dieser Ziele voll auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, Hindernisse zu beseitigen für die effiziente Lenkung von Kapital hin zu nachhaltigen Investitionen im Binnenmarkt und die Entstehung neuer Hindernisse zu vermeiden."4

Die vertretbare Intention eines Nachhaltigkeitslabels für Finanzprodukte war es, die privaten und öffentlichen Investitionen im EU-Raum auf der Grundlage der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) systematisch und wirksam in eine nachhaltige Richtung zu lenken. Hierfür wurden für die verschiedenen EU-Staaten einheitliche Kriterien in Form einer Taxonomie, also eines abgestuften Bewertungssystems, in einem aus der Sicht der Kommission "holistischen Sinne" entwickelt5:

Die Kriterien, anhand deren bestimmt wird, ob eine Wirtschaftstätigkeit ökologisch als nachhaltig einzustufen ist, sollten auf Unionsebene harmonisiert werden, um Hindernisse für das Funktionieren des Binnenmarkts im Hinblick auf die Mobilisierung von Finanzmitteln für nachhaltige Projekte zu beseitigen und das künftige Auftreten von Hindernissen für solche Projekte zu verhindern.

Eine derartige Harmonisierung würde es den Wirtschaftsteilnehmern erleichtern, grenzüberschreitend Finanzmittel für ihre ökologisch nachhaltigen Tätigkeiten zu mobilisieren, da ihre Wirtschaftstätigkeiten dann anhand einheitlicher Kriterien bewertet werden könnten, um als zugrunde liegende Werte für ökologisch nachhaltige Investitionen ausgewählt zu werden. Eine derartige Harmonisierung würde somit grenzüberschreitende nachhaltige Investitionen innerhalb der Union erleichtern.

Es geht also darum, ob eine wirtschaftliche Aktivität, also z.B. die Herstellung eines industriellen Produkts sowie das Produkt selbst, als nachhaltig zu qualifizieren sind und damit für Fonds und institutionelle sowie private Anleger aufgrund der EU-Taxonomie als "grünes" Produkt empfohlen werden können.

Des Weiteren betrifft dies auch die öffentliche Förderung und staatliche Maßnahmen zur Konjunkturlenkung. Unternehmen haben dementsprechend den Grad der Nachhaltigkeit ihrer Produkte Kriterien orientiert - als Prozentsatz in Bezug auf die Vorgaben – detailliert offenzulegen.6

Die Taxonomie hat sich zunächst an den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN von 2015 (Agenda 2020) zu orientieren, welche die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit umfassen. Des Weiteren richtet sich die Konkretisierung der Taxonomie (Art. 9) nach den sechs Umweltzielen der EU7:

  1. Klimaschutz;
  2. Anpassung an den Klimawandel;
  3. die nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen;
  4. der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft;
  5. Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung;
  6. der Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme.

Die Taxonomie basiert auf Prinzipien, die auf diese sechs Umweltziele ausgerichtet sind (Kap. II):

  • Inwieweit bietet eine Wirtschaftstätigkeit einen "wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz"? (Art. 10) Inwieweit ist also eine ökonomische Aktivität geeignet, das 1,5-Grad-Klimaziel der Pariser UN-Klimaschutzkonferenz zu verwirklichen, u.a. durch den Einsatz regenerativer Energieerzeugung und erhöhter Energieeffizienz?
  • Führt die konkrete Wirtschaftsaktivität zu einem "wesentlichen Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel"? (Art. 11) Ist eine ökonomische Aktivität geeignet, die Wirkungen des bereits eintretenden oder zukünftigen Klimawandels zu vermindern – allerdings "ohne das Risiko nachteiliger Auswirkungen auf Menschen, Natur oder Vermögenswerte zu erhöhen"?
  • Leistet eine Wirtschaftsaktivität "einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz von Wasser- und Meeresressourcen"? (Art. 12) Führt z.B. eine ökonomische Aktivität zur Einleitung von Abwasser und zur Verschmutzung von Flüssen?
  • Führt eine Wirtschaftsaktivität zu einem "wesentlichen Beitrag zum Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, einschließlich Abfallvermeidung, Wiederverwendung und Recycling"? (Art. 13) Hierbei ist u.a. die Verringerung bzw. Beseitigung des Einsatzes "besonders besorgniserregender Stoffe in Materialien und Produkten während ihres gesamten Lebenszyklus" und "unter anderem durch Ersetzung dieser Stoffe durch sicherere Alternativen und durch Gewährleistung der Rückverfolgbarkeit" gemeint.
  • Leistet eine Wirtschaftsaktivität einen "wesentlicher Beitrag zur Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung"? (Art. 14) Inwieweit wird z.B. eine Verringerung von Treibhausgas relevanten Emissionen oder anderer Schadstoffe durch diese Wirtschaftstätigkeit erzielt? Wie kann eine negative Auswirkung auf die menschliche Gesundheit vermieden werden?
  • Leistet eine ökonomische Aktivität einen "einen wesentlichen Beitrag zum Schutz und zur Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme"? (Art. 15) Inwieweit trägt etwa eine Wirtschaftsaktivität zum Schutz von Ökosystemen, zur Sanierung belasteter Böden oder zur Artenvielfalt bei?

Der Nachweis der Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Aktivität hat hierbei in vier Schritten zu erfolgen8:

  • Feststellung der Abdeckung der ökonomischen Aktivität durch die Taxonomie;
  • Feststellung des "wesentlichen Beitrags" der jeweiligen Wirtschaftsaktivität;
  • Feststellung der Einhaltung des notwendigen Mindestschutzes;
  • Feststellung der Erfüllung der technischen Bewertungskriterien.

Der Nachweis der Erfüllung technischer Bewertungskriterien soll u.a. – und dies ist für die vorliegende Fragestellung nach der Nachhaltigkeit der Kernenergie besonders relevant – "dem Lebenszyklus sowie den Erkenntnissen aus vorhandenen Lebenszyklusanalysen Rechnung tragen, indem sowohl die Umweltauswirkung der Wirtschaftstätigkeit selbst als auch die Umwelteinwirkungen der durch sie bereitgestellten Produkte und Dienstleistungen berücksichtigt werden, insbesondere durch Beachtung der Herstellung, der Verwendung und des Endes der Lebensdauer dieser Produkte und Dienstleistungen". (Art. 19)

Interessanterweise wird in der EU-Richtlinie von 2020 vor dem Greenwashing gewarnt, wenn also falsche Label für vorgeblich ökologische Produkte vergeben werden. Die EU-Taxonomie solle das Greenwashing verhindern9:

Anforderungen an die Vermarktung von Finanzprodukten oder Unternehmensanleihen als ökologisch nachhaltige Investitionen, einschließlich der von den Mitgliedstaaten und der Union festgelegten Anforderungen, die die Finanzmarktteilnehmer oder Emittenten erfüllen müssen, um nationale Kennzeichnungen verwenden zu dürfen, sollen das Anlegervertrauen und das Bewusstsein für die Umweltauswirkungen dieser Finanzprodukte oder Unternehmensanleihen stärken, die Sichtbarkeit erhöhen und Bedenken in Bezug auf Greenwashing ausräumen.

Im Sinne dieser Verordnung wird Greenwashing als die Praxis bezeichnet, durch die die Bewerbung eines Finanzprodukts als umweltfreundlich einen unfairen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, obwohl den grundlegenden Umweltstandards nicht entsprochen wird.

Vor diesem Hintergrund ist es dann doch erstaunlich, wenn die EU-Kommission nun am 1.1.2022 einen Vorschlag zur Beratung in die zuständigen Gremien gibt, der sich für die Nachhaltigkeit von Atomkraftwerken bzw. der Kernenergie (bis 2045) und der Energiegewinnung auf der Basis von Gas (bis 2030) ausspricht.10

Bei diesem Vorschlag handelt es sich um eine Ergänzung zur bisherigen Taxonomie, die nun der Sachverständigengruppe der Mitgliedstaaten für nachhaltiges Finanzwesen und der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen zur Stellungnahme vorgelegt wurde.

Dieser sogenannte "delegierte Rechtsakt" der EU-Kommission wird anschließend im ersten Halbjahr 2022 in einem Zeitraum von vier Monaten im EU-Parlament und im Rat der Europäischen Kommission beraten. Beide Gremien haben hierbei bei entsprechenden Mehrheiten ein Veto-Recht.11

Wenn der Vorschlag der EU-Kommission angenommen würde, könnten Aktien von Energieversorgungsunternehmen, die ihre Energieproduktion vorwiegend aus Kernenergie bzw. Atomkraftwerken beziehen, als nachhaltig empfohlen werden. Atomkraftwerke könnten dann des Weiteren der CO₂-Bilanz eines Staates gutgeschrieben werden.

Die Fraktion der Grünen im EU-Parlament überlegt daher, ob sie Klage gegen den Vorschlag der EU-Kommission einlegt. Hierbei müssten sie wohl noch die französischen Grünen überzeugen, deren grüner Präsidentschaftskandidat, Yannick Jadot, den Ausstieg aus der Kernkraft erst in 20 bis 25 Jahren als realistisch ansieht.12

Es soll sich im Folgenden nun systematisch damit befasst werden, inwieweit die Ausweisung der Kernenergie – insbesondere auf Betreiben Frankreichs und einiger osteuropäischer EU-Staaten – tatsächlich den eigenen EU-Kriterien genügt, so wie sie die eigene Taxonomie-Verordnung der EU vorsieht.