"Gestern noch schien der Krieg ein Alptraum, heute fühle ich seine Wirklichkeit"

Alexandra Kollontai (1872-1952). (Bildquelle)

Beobachtungen einer Russin in Berlin. Auszüge aus dem Tagebuch von Alexandra Kollontai aus dem Sommer 1914 (Teil 1)

30. Juli. Abend. (Bad Kohlgrub.)

Der Krieg ist Tatsache, ist Realität. Das habe ich erst heute so richtig gespürt, als ich vom Tod von Flüchtlingen aus Belgrad las. Opfer des Krieges, Schrecken des Krieges… Deutlich kommen mir die Erzählungen B. S. Stomonjakows über die Schrecken des Krieges auf dem Balkan vor zwei Jahren wieder in Erinnerung.

"Welches auch immer das Ziel eines Krieges sein mag, die Schrecken sind so unbeschreiblich groß, dass es keinerlei Rechtfertigung für ihn geben kann" – so lautete die Schlussfolgerung aus seinen Schilderungen. Gestern noch schien der Krieg ein Alptraum, heute fühle ich seine Wirklichkeit. Und dennoch glaube ich es nicht, kann es nicht fassen, nicht begreifen …

Am Abend sind alle in Kohlgrub nervös, in gespannter Stimmung. Die bedrückende Unruhe weicht nicht. Man hat ein sonderbares, unbekanntes Gefühl der Hilflosigkeit, wie angesichts der Gewalt einer Naturkatastrophe.

Ich begreife nicht, wieso die Sozialdemokraten bisher nicht einen einzigen Aufruf erlassen haben. Warum hört man nichts von Arbeiterdemonstrationen in Deutschland? In Paris regt man sich doch, kämpft!1

31. Juli, im Zug – München.

Wir fahren nach Berlin. Weiter auf Nachrichten zu warten, ist unmöglich. Man möchte der Zentrale näher sein. Möchte an Ort und Stelle klären, was die Partei unternimmt. Welche Schritte wird es geben? Die Isolation ist unerträglich.

Ich habe einen Vorwärts2 gekauft. Wieder dieser viel zu "abstrakte" Ton. Es hat eine Straßendemonstration gegeben, am 28., Unter den Linden. Doch offenbar ohne Erfolg.

In Berlin finden die üblichen Arbeiterversammlungen statt. Häufiger als sonst sind die Proteste gegen steigende Preise für Schweinefleisch. Aber kein einziger Aufruf, kein einziger Appell der Partei, nicht ein lebendiges Wort, das die Arbeiter aufriefe, Widerstand zu leisten. Wann werden sie denn anfangen zu handeln? Schließlich ist der Krieg doch da! Man muss alle diese Einberufenen einspannen, muss jetzt einen Aufruf ergehen lassen, gerade jetzt, solange die Gefahr erst im Anzug ist.

Für das Zögern des Parteivorstandes gibt es jetzt keine Rechtfertigung. Hier darf man nicht "beratschlagen", hier muss man handeln.

Der Vorwärts stellt fest, dass "unser Land" keinen Krieg will. Was heißt hier "Land"? Warum nicht einfach: "Die Arbeiter lassen den Krieg nicht zu"? Weiter heißt es, dass Russland dem Krieg aus dem Wege gehen werde, da es seine unvermeidliche Folge, die Revolution, fürchte.

Doch im gleichen Atemzug jagt der "Vorwärts" Deutschland Angst ein: Möge unser Land nicht vergessen, dass Krieg noch nicht das Ende des Zarismus bedeutet, und möge Deutschland angesichts der Gefahr einer Invasion des "finsteren" Russland auf der Hut sein.

Wozu das? Das riecht nach Chauvinismus …

1. August. Grunewald, Stadtteil von Berlin.

Es ist Nacht, die erste Nacht des unabwendbaren Ereignisses – der "Kriegserklärung".

Der Krieg ist erklärt. Ein Tag, angefüllt mit einer Menge Erlebnissen. An Schlaf ist da nicht zu denken. Morgens, als wir aus München kamen, sträubte sich Berlin noch aus Leibeskräften gegen den Krieg, protestierte es im Innersten, hoffte es. Mit jeder Stunde wurde die Hoffnung schwächer. Gegen Abend, mit Einbruch der Dämmerung, brach plötzlicher hysterischer Patriotismus aus. "Das Volk fordert den Krieg!"

Das Volk? Jenes Volk, das sich noch gestern mit allen Fasern seines Herzens gegen den Krieg sträubte? Das Volk, das finsteren Blickes dem Gestellungsbefehl nachkam, voller Sorge und unter offenkundiger Verurteilung der Politik des Kaisers?

Alexandra Kollontai war eine russische Diplomatin und Schriftstellerin. Als Mitglied der Bolschewiki stand sie in ihrer Zeit als Volkskommissarin für eine sozialreformerische Politik und galt als Kämpferin für mehr Frauenrechte in der russischen Gesellschaft. Die unmittelbare Vorkriegszeit erlebte sie in Berlin, später ging sie nach Schweden. Ihre Tagebuchaufzeichnungen, die von der Vorkriegsstimmung in Deutschland zeugen, veröffentlicht 1924 erstmals die Zeitschrift Swesda (Der Stern). Der hier dokumentierte Text ist der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0 entnommen, auf der sich weitere historische Text finden.

Ein graues Auto rast durch den Grunewald, in den Alleen werden Flugblätter abgeworfen.

Russland ist der Krieg erklärt worden. Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, mir ist, als würde ringsum alles finster. Nun ist es da, dieses Grauen, das sich all diese Tage wie ein drückender Alptraum auf uns zubewegte. Der Weltkrieg! Das ist keine Gefahr mehr, sondern Tatsache, Wirklichkeit …

Ich erkundige mich bei Haase, wann und wo der Internationale Kongress stattfinden werde.

"Kongress? Sie scherzen wohl! Sehen Sie denn nicht, was los ist? Die Leute sind von Sinnen. Der Krieg ist unvermeidlich. Der Chauvinismus hat die Köpfe verwirrt. Da lässt sich nichts mehr tun."

Ich glaube seinem Pessimismus nicht, glaube nicht an seine merkwürdige Schicksalsergebenheit. Ich fahre in die Lindenstraße, ins Frauenbüro, will etwas über die Pläne der Partei erfahren. Dort treffe ich lediglich Luise Zietz an. Sie sieht besorgt aus, und wie es scheint, ist es ihr unangenehm, dass ich gekommen bin. Sie ist kurz angebunden und sehr förmlich. Sie erzählt, dass Clara Zetkin sehr erregt sei angesichts der Ereignisse, dass sie eine Sondernummer der "Gleichheit" herausbringen wolle – doch von Plänen oder Maßnahmen der Partei kein Wort.

"Wir haben protestiert, haben unserer Pflicht Genüge getan; doch wenn das Vaterland in Gefahr ist, muss man auch da seine Pflicht erfüllen können."

Ich blicke die Zietz nur groß an und begreife, dass wir uns nicht einig werden. Als ich noch versuche, zu erfahren, ob es Direktiven des Internationalen Büros3 gibt, bekomme ich eine ausweichende Antwort. Ich habe den Eindruck, dass ich für Luise Zietz schon nicht mehr Genossin, sondern "Russin" bin.

Um eins haben wir erfahren, dass Jaurès4 tot ist.

Die Nachricht war wie ein Messerstich mitten ins Herz. Kein Zweifel, wenn das möglich ist, dann ist alles möglich! Seit dieser Stunde glaube ich an den Weltkrieg. Als habe sich das Rad der Geschichte von seiner Kette gelöst und reiße uns mit in den Abgrund …

Jaurès ist nicht mehr. Seine mächtige Gestalt, die das Proletariat vor dem blutigen Alptraum schützte, ist nicht mehr da. Doch direkt beängstigend ist, dass ich zwar das ganze Ausmaß des Verlustes erkenne, den der Tod dieses großen Mannes bedeutet, dass sich dieses Ereignis aber vor dem Hintergrund des Alptraums des Krieges irgendwie unbedeutend, geringfügig und blass ausnimmt. Immer dichter ziehen sich die Wolken zusammen, immer gespannter sind die Nerven.

Mit jeder Stunde sinkt die Hoffnung, dass der Krieg noch abgewendet wird. Innerlich bebt alles. Man quält sich, wie in den Stunden, da ein nahestehender Mensch mit dem Tode ringt. Da ist er also, der Krieg! Als wir ihn uns vorzustellen versuchten, schien es uns, als werde hinter seinem Rücken unverzüglich als roter Schatten das "rote Gespenst" auftauchen. Doch dieses Stillschweigen der Partei, diese Fassungslosigkeit und Demut! Das kann einem den Verstand rauben …

"Warum finden keine Versammlungen statt, keine Demonstrationen?" habe ich Luise Zietz am Morgen eindringlich gefragt.

"Aber so verstehen Sie doch – der Kriegszustand." "Gerade deshalb brauchen wir ja Demonstrationen. In Paris wird gekämpft, werden Barrikaden gebaut. Hier dagegen nichts als Ergebenheit, Stillschweigen und Fassungslosigkeit."

Dafür sind die Chauvinisten aktiv. Unter den Linden singt die Menge "nationale" Lieder. Dem Kaiser werden auf der Straße Ovationen entgegengebracht. Reden vom Balkon des Schlosses. In den Kirchen Bittgottesdienste. Regierungsbeauftragte fahren mit Autos umher und verteilen Aufrufe an das Volk …

2. August. Nachts halb eins.

Die Ereignisse überstürzen sich. Man will es nicht glauben, dass dies erst der zweite Tag des Krieges ist. Am Morgen eile ich nach einer fast schlaflosen Nacht zu Liebknecht. Der schöne ruhige Grunewald liegt jetzt unheildrohend verlassen da. Doch graue Militärfahrzeuge rasen vorüber. Überall Stahlhelme, Gruppen von Soldaten. Viel Polizei. Es ist Sonntag, aber Spaziergänger sieht man nicht.

Liebknecht treffe ich zu Hause an. Er hat es eilig, will in die Stadt. Sofja Borissowna (Liebknechts Frau) ist niedergeschlagen. Nein, auch sie "akzeptiert" den Krieg nicht. Zusammen mit Liebknecht fahre ich zurück in die Stadt. Karl spottet bitter über die "Leichtgläubigkeit" so vieler Menschen:

Ein geschicktes, durchtriebenes Spiel unserer Regierung. Wir selbst haben den Brand vorbereitet und ausgelöst, aber wenn nun die Flamme auflodert, tun wir großmütig und versichern, dass wir den Frieden wollen, dass Russland als erstes das Schwert geschärft habe, dass wir gezwungen seien, uns zu verteidigen. "Eure" und "Unsere" stehen sich bei diesem Spiel in nichts nach. Nur spielen "Unsere" gerissener. Schauen Sie doch, was das für eine großartige Geste ist für die Leichtgläubigen: An Russland wurde eine Note gesandt, die Aufforderung, zu demobilisieren. Eine Ohrfeige für die Großmacht! Wir aber, wir sind großmütig! Wir geben für die Antwort zwölf Stunden Zeit. Weshalb ziehen wir das Ganze noch zwölf Stunden hin? Wundervoll ausgeheckt! Eine Inszenierung, wie sie Reinhardt zur Ehre gereichen würde.

Liebknecht ist gerade aus Nordfrankreich zurückgekehrt. Er versichert, dass das französische Proletariat ganz entschieden gegen den Krieg ist. Der Mord an Jaurès sei von den Chauvinisten bewusst inszeniert worden. Damit haben sie den Menschen aus dem Weg geräumt, dessen Stimme "in dieser entscheidenden Stunde" das Weltproletariat hätte einigen können. Die Taktik der Partei stehe noch nicht fest. Man streite sich heftig. Er fahre jetzt zur Sitzung der Parlamentsfraktion …

4. August.

Wir sind "Gefangene". Meinen Sohn hat man verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht. Und gestern haben die Sozialdemokraten faktisch bereits für die Kredite gestimmt. Ja, ja, sie haben für den Krieg gestimmt!5

Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Angst um meinen Sohn oder die Verzweiflung über ihre Entscheidung.

Zwei schreckliche Tage. Der Strudel des Krieges reißt uns mit wie winzige Staubkörnchen …

Das ging Montag früh um sechs los. Verhör auf dem Polizeirevier. Grober Ton des ranghöchsten Polizisten und ein Entscheid, der uns beide, meinen Sohn und mich, betrifft: "Sie sind verhaftet."

Wir werden in ein großes leeres Zimmer gesperrt. Vor der Tür ein Polizist. Ich höre, wie angeordnet wird, mein Zimmer zu durchsuchen. Sogleich fällt mir mein Mandat für Wien mit dem Stempel der russischen Partei ein.6 Wie ärgerlich, dass ich gestern vergessen habe, ein mich derart kompromittierendes Dokument zu vernichten!

Am Morgen des 4. August taucht in der Tür meiner Zelle unvermittelt ein dicker Polizist auf, gefolgt von noch einem, mit einem Karton unterm Arm, in dem sich meine Papiere befinden.

"Sie sind die bekannte Agitatorin soundso?"

"Ja, das bin ich." Und im Stillen denke ich: Also doch! Sie haben das Mandat gefunden.

"Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Eine russische Sozialistin kann dem russischen Zaren nicht wohlgesinnt sein. Und wird natürlich schon gar nicht für den Sieg dieser Barbaren Spionage betreiben. Sie sind frei."

Eine unerwartete Wende. Das gleiche Dokument, das noch vor einer Woche Anlass gewesen wäre, mich aus Preußen auszuweisen, öffnet mir nun die Türen des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz.

Man gibt mir den Karton mit meinen Papieren und setzt mich auf freien Fuß. Doch wohin soll ich gehen? Zunächst einmal muss ich natürlich in Erfahrung bringen, was mit meinem Sohn ist. Man empfiehlt mir, mich an das Oberkommando und an die Kommandantur zu wenden.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.