Schlussbilanz eines "Putin-Verstehers"

Bild Wladimir Putin: kremlin.ru / CC-BY-SA-4.0 / Grafik: TP

Putin gehört – wie ehemalige US-Präsidenten – vor den Internationalen Strafgerichtshof

Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg geboren und war ein Vierteljahrhundert Richter an einem höheren Gericht in Bayern. Meine Lebenserfahrung sagt, wer gerecht sein will, muss immer dieselben Maßstäbe anlegen. Das gilt auch bei Wladimir Putin, aktuell der meistgehasste Mensch in der westlichen Welt.

Die bewegendste Reise meines Lebens führte mich 1992 in den kleinen russischen Ort Uljanowo. Dort fand ich nach vielen Mühen das Grab meines im Krieg gefallenen Vaters. Auf dieser Reise war mir ein Blick in die russische Seele vergönnt.

Die Russen, mit denen ich es auf dieser denkwürdigen Reise zu tun hatte, haben mich immer wieder verwundert. Eigentlich hatte ich, der Sohn eines deutschen Soldaten, der ihr Land überfallen hat, Distanz und Ablehnung erwartet. Was ich fand, war Anteilnahme und Sympathie. Seitdem schlägt mein Herz für das Land, in dessen Erde mein Vater ruht.

Ich als Putin-Versteher

Heute, 30 Jahre später, überlege ich, wie Putins Krieg gegen die Ukraine meine Haltung zu Russland verändert hat und ob ich ein verblendeter "Putin-Versteher" war.

Die Antwort auf letztere Frage hängt zunächst davon ab, welche Bedeutung man dem Begriff "verstehen" beimisst. Nach meinem Sprachverständnis ist ein Versteher jemand, der sich bemüht, etwas zu begreifen. Das ist etwas fundamental anderes als billigen und rechtfertigen.

Vielleicht hängt es mit meinem früheren Beruf zusammen, dass ich mich erst einmal bemühe zu begreifen, warum der russische Präsident Wladimir Putin so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Denn wenn ich es nicht begreife, kann ich kein Urteil fällen, zumindest kein gerechtes. Mit einem vorschnellen Urteil ist niemand gedient, weder dem Täter noch seinen Opfern und schon gleich gar nicht der Gerechtigkeit.

Im Lichte meines Wortverständnisses muss ich einräumen, dass ich ein Putin-Versteher bin. Das habe ich in Artikeln und Vorträgen mehrfach zum Ausdruck gebracht. Mit der Etikettierung, ein Putin-Versteher zu sein, musste ich mich erstmals 2014 im Kontext mit dem Anschluss der Krim an die Russische Föderation befassen.

Damals kritisierte ich den früheren Chefredakteur einer viel gelesenen überregionalen Zeitung wegen der verleumderischen und hetzerischen Artikel und Kommentare über Putin in seinem Blatt. Er bescheinigte mir daraufhin ein übergroßes Verständnis für Herrn Putin.

Mein Blick auf Putin

Wenn man der Persönlichkeit des russischen Präsidenten gerecht werden will, dann tut man gut daran, nicht beim Ukraine-Krieg zu beginnen, sondern die einzelnen Phasen von Putins öffentlichem Wirken getrennt zu betrachten. Hierbei hüte ich mich, ein Psychogramm des Menschen Wladimir P. zu entwerfen; dafür fehlt mir die Expertise. Ich beschränke mich auf die Bewertung der Tatsachen, die weitgehend unstreitig sind.

Am Anfang steht Putins Rede vom 25. September 2001 im Deutschen Bundestag. Der damals erst ein Jahr im Amt befindliche Präsident trug den größten Teil seiner Rede – wie er sagte – "in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant" vor. Er entwickelte seine Vorstellungen von den deutsch-russischen Beziehungen, vom Aufbau eines europäischen Hauses, einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur und er sprach von Humanismus.

Die in gutem Deutsch gehaltene Rede war eine Reverenz an die Vertreter des Landes, das vor 60 Jahren die Sowjetunion mit einem verheerenden Krieg überzogen hat, dem 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Am Ende des Protokolls der Bundestagssitzung steht der nüchterne Satz "Die Abgeordneten erheben sich". Ein Video zeigt, es war mehr: Putin erhielt stehende Ovationen – und zwar parteiübergreifend.

Putin hatte die Herzen der Deutschen gewonnen. Auch meines. Das ist gewissermaßen die Geburtsstunde des Putin-Verstehers, der meinen Namen trägt. Putin hatte die Hände weit ausgestreckt – für ein neues, friedliches und besseres Europa. Ich war mir sicher, dass nach Gorbatschows Staatsbesuch von 1989 und Putins Rede von 2001 der Kalte Krieg endgültig Geschichte ist und dass man fortan die wirklichen Probleme des Planeten Erde gemeinsam angehen kann. Das war 2001 …