Frieden muss gestiftet werden

Am World War II Memorial in Washington. Bild: MarkThomas, pixabay.com

Das Ende der Gewissheiten ist kein Ende der Orientierung an Normen

Der derzeitige Krieg, mit seinem Bedrohungspotential zu einem Weltbrand, ist auch eine schwere Niederlage für die Sehnsucht nach einer entmilitarisierten, naturgerechten Welt. Ohnmächtig hören und sehen wir die Verzweiflung der Menschen in der Ukraine, einem Land, in dem, ähnlich wie in Russland, die Traumata des Zweiten Weltkrieges und die Verbrechen der NS-Besatzung nachwirken.

Die russische Invasion in die Ukraine ist das schlimmste Verbrechen, das das Völkerrecht kennt. Niemand kann jetzt zur Tagesordnung übergehen, es gibt keine Tagesordnung mehr.

Erstmalig steht der Rechtsnachfolger der Sowjetunion, das kapitalistische Imperium Russland, dem kapitalistischen Imperium der Nato-Staaten in extremer Feindschaft gegenüber. Erstmalig scheint die Nato den besonneneren Part zu spielen – ob aus verspäteter Vernunft oder strategischer Ohnmacht sei dahingestellt. Selbst wenn die Waffen hoffentlich sehr bald schweigen, den darauffolgenden "Frieden" werden, bis auf die Rüstungsindustrie, alle verloren haben. Das kann auch nicht im Interesse der Russischen Föderation liegen – warum sehen das ihre Befehlsgeber nicht?

Daniela Dahn ist deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin. Sie ist Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN, stellvertretende Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises und gehört der internationalen Untersuchungskommission "Grundrechte und Globalisierung" an. Dahn wurde unter anderem mit dem Goethe-Preis, dem Fontane-Preis, dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik, der Louise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin sowie mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.

Doch die Fassungslosigkeit aller einst um Frieden und Verständigung Bemühten kommt zu spät – jetzt hat das Nichtzuhören, wenn es um russische Sicherheitsinteressen ging, so gut wie alle Kommunikationskanäle blockiert. Dabei handelten die Entspannungspolitiker einst sehr wohl im demokratischen Auftrag – noch im April 2018 hielten laut Forsa 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig. Krieg ist immer Versagen von Politik. Und wir sind für unser Versagen zuständig.

Wer es leid ist, dass sich Kriege wie ein Perpetuum mobile durch die Landschaft schieben, muss die Treibstoff-Mischung aus unerschöpflichem Schlafwandlertum und massiver Provokation analysieren. Denn dass dies kein "unprovozierter" Krieg ist, gehört zu den wenigen Gewissheiten. Wäre das unheilvolle Gefährt zu bremsen gewesen, wenn die richtungsändernden Kipppunkte nicht ignoriert worden wären?

Putin hat die westliche Friedensordnung angegriffen, heißt es nun allenthalben. Ein Angriff ist diese Aggression zweifellos, aber ebenso zweifellos hat es eine "westliche Friedensordnung" nie gegeben. Es macht ungehalten auf das doch Offensichtliche verweisen zu müssen, nämlich, mit welch entlastender Geschichtsvergessenheit darüber hinweggegangen wird, wie seit dem Zweiten Weltkrieg die USA, ohne oder mit einer "Koalition der Willigen", eigenhändig oder durch das Aufrüsten der Konfliktparteien, ganze Regionen dieser Welt in Schutt und Asche gelegt oder zumindest nachhaltig destabilisiert haben.

Mit Opferzahlen, die angefangen in Korea, Kambodscha, und Vietnam, über Mittelamerika bis in den heutigen Nahen Osten in die Millionen gehen. Ist selbst das jüngste Afghanistan-Debakel nicht mehr präsent genug, um im Westen mit Friedensbehauptungen umsichtiger und selbstkritischer umzugehen?

Die vermeintliche westliche Friedensordnung zeigt sich als eine Welt, in der der Profit aus der Rüstungsindustrie größer ist als das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. Ja, Autokraten setzen jetzt mühsam errungene, internationale Regeln außer Kraft. Aber zuvor haben Demokraten ebendiese Regeln außer Kraft gesetzt.

Gegen derartige Schlüsse wurde schon immer ein Denkverbot aufgeboten, wonach sich "Äquidistanz" nicht schicke. Ein Verbot, das neuerdings mit dem hippen, aber nicht weniger opportunistischen Whataboutismus ins Feld zieht. Die antiimperialistische Linke solle gefälligst aufhören, die Verbrechen der Autokraten durch die reflexhafte Frage abzumildern: What about die Vergehen der USA und der Nato?

Dabei geht es doch erwiesenermaßen nicht um Relativieren oder gar Rechtfertigen, sondern um die Verteidigung kausalen Denkens. Kein vorsätzlich gleichmacherischer Abstand, sondern Kontextualisierung, die zu seriöser Geschichtsschreibung gehört.

Wer Opfern helfen will, sollte die Genesis von Kriegen und Krisen zur Kenntnis nehmen, damit Geschichte sich nicht permanent wiederholt. Dabei wäre selbstkritisch anzumerken, dass der Fokus der deutschen Linken auf dem hochmütigen, ja demütigenden Verhalten des Westens gegenüber Russland lag, während das Zerriebenwerden der Ukraine zwischen den Großmächten weitgehend aus dem Blickfeld geriet.

1999, während des Nato-Krieges gegen das Russland durch Geschichte und Kultur Verbündeten Jugoslawien, sagte der SPD-Politiker Egon Bahr im Schweizer Radio:

Ich weiß genau, dass Russland nicht so schwach bleiben wird, wie es im Augenblick ist. Wir können im Prinzip jetzt alles tun, was wir wollen, Russland kann es nicht verhindern. Aber ich warne davor, ein großes und stolzes Volk zu demütigen.

Dennoch bekannte der russische Präsident zwei Jahre später im Bundestag durchaus selbstkritisch:

Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker.

Wir hätten noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des Kalten Krieges zu befreien. Es fällt schwer, den Wladimir Putin von einst wiederzuerkennen, der etwa 2013 in der New York Times in einem Offenen Brief an das US-amerikanische Volk überzeugen wollte: "Gewalt hat sich als unwirksam und sinnlos erwiesen." Wir müssten zurück zum Weg der zivilisierten, diplomatischen Vereinbarungen kommen.

Nichts legitimiert einen Angriffskrieg

Wie vereinbart sich der heutige Kriegswille mit den sehr privaten Erinnerungen Putins zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, die die FAZ druckte? Dort erzählt er, dass sein Vater Matrose in Sewastopol auf der Krim war und sich vor deutschen Truppen stundenlang im kalten Herbstmoor vergrub, nur durch ein Schilfrohr atmend, das feindliche Hundegekläff neben ihm.

Wie er später mit zerschossenem Bein auf Krücken nach Hause kam und sah, wie Sanitäter Leichen aus der Eingangstür trugen, darunter Putins Mutter. Wie ihm schien, als atme sie noch, wie er darauf bestand, sie zurück in die Wohnung zu bringen, sie tatsächlich gesund pflegte, während der kleine Bruder starb …

Was muss geschehen sein, dass der Modus des zu Bedenkengebens ins scheinbar Bedenkenlose abgestürzt ist? Nicht nur Jack Mattlock, einstiger US-Botschafter in Russland, macht jetzt den Vorwurf, dass es keine Grundlage für den Ukraine-Krieg gegeben hätte, wenn die Nato sich nicht nach Osten ausgedehnt hätte, oder wenn die Erweiterung im Einklang mit einer Sicherheitsarchitektur gestanden hätte, die Russland einschließt.

"Der Versuch, die Ukraine vom russischen Einfluss zu lösen – das erklärte Ziel derer, die für die 'Farbrevolution' agierten – war ein Narrenstreich, und ein gefährlicher."

Ja, Russland hat allen Grund, sich verraten, bedroht und erbittert zu fühlen. Aber nochmals Nein: Das legitimiert keinen Angriffskrieg, der die Kombattanten und die ganze Welt an den Abgrund führt.

Als besonders verdammenswert gilt jetzt, dass der Ukraine-Krieg erstmalig seit 80 Jahren wieder "mitten in Europa" Opfer kostet. Abgesehen von der fragwürdigen Hierarchisierung der Opfer-Tragik, erstaunt auch hier die Amnesie: Der letzte Krieg "mitten in Europa" ist erst gut 20 Jahre her, der erste Krieg der Nato nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Angriffskrieg ohne UN-Mandat, in Serbien. Russland wurde nicht einmal vorab informiert.

Das Ende der Idee gemeinsamer Sicherheit ist zuallererst durch dieses Ereignis verursacht worden. Wenn man sich der Mühe genauer Erinnerung unterzieht, dann erscheint es, als habe der Kreml den Nato-Angriffskrieg in seinen Methoden und besonders in seiner Propaganda eins zu eins kopiert.

Es erstaunt, wie sehr diese Duplizität heute bestenfalls in Nebensätzen abgetan wird. Deshalb sollen hier einige Hauptsätze nachgetragen werden. Sie führen nicht ins Abseits, sondern ins Zentrum von Kriegslogik. (Ausgangspunkt und Folgen des Jugoslawien-Krieges habe ich andernorts ausführlicher beschrieben.)

Die Begründung für die Bombardierung Restjugoslawien war genauso abwegig, wie die, auf die Präsident Putin jetzt abgehoben hat: Verhinderung eines Genozids und Befreiung von Nazis. Diese Rechtfertigung war ebenso frei erfunden, wie später die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak – nur hat sie sich im Gegensatz zu dieser Desinformation im öffentlichen Bewusstsein weitgehend halten können.

Es gäbe nur einen legitimen Grund für die Bomben auf Jugoslawien, schrieb die FAZ, "die Verhinderung eines Völkermordes". Als die Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla del Ponte, wenig später gefragt wurde, weshalb dieser Anklagepunkt gegen die Regierung Milošević nicht erhoben wurde, musste sie zugeben: "Weil es keine Beweise dafür gibt."

Damit war die angeblich einzige Legitimation des Bombardements einer europäischen Hauptstadt schon Wochen vor dessen Ende entfallen. Das war nicht überraschend, die Gräuel von Srebrenica lagen vier Jahre zurück. Zuvor hatten sich die Warnungen kompetenter US-Politiker, die Missachtung jugoslawischer Souveränität durch die Anerkennung von Separationen würde zu einem Bürgerkrieg führen, bewahrheitet.

Doch nach Jahren brutaler Kämpfe und diplomatischer Bemühungen der Konfliktparteien waren, die mit einseitigen Schuldzuweisungen nicht zu beschreibenden Gegner ermattet, der Bürgerkrieg am Abflauen.

Schließlich wurde der Zweck des Krieges propagandistisch herabgestuft: Verhinderung von Massenvertreibung von Kosovo-Albanern durch die Serben. Aber auch das war eine völlige Verzerrung von Realität, ganz abgesehen davon, dass ein Eindämmen von Fluchtbewegungen durch Kriege ein verblüffendes Versprechen war.

Im Oktober 1998, Monate vor Kriegsbeginn, berichteten OSZE-Beobachter und Presse, dass Milošević seine Truppen und Polizei auf die vom Westen geforderten Obergrenzen aus dem Kosovo zurückgezogen hatte, dass Kampfhandlungen bis auf einzelne Feuergefechte, für die man sich gegenseitig beschuldigte, eingestellt wurden und Flüchtlinge zurückkehrten. Ein Urteil des VG Baden-Württemberg vom 4. Februar 1999 bezog sich auf die Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes:

Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse stimmen darin überein, dass die zeitweilig befürchtete humanitäre Katastrophe für die albanische Zivilbevölkerung … abgewendet werden konnte und dass sich seitdem sowohl die Sicherheitslage wie auch die Lebensbedingungen der albanisch-stämmigen Bevölkerung spürbar gebessert haben… Namentlich in den größeren Städten verläuft das öffentliche Leben wieder in relativ normalen Bahnen.

Lediglich etwa 2000 Flüchtlinge würden noch im Freien übernachten.