"Deutschland und Frankreich sollten in der Nato eine eigene Stimme erheben"

Bild (November 2021): Dati Bendo/

Die aktuelle Krise der EU und neue Chancen für Kerneuropa? – Interview mit Klaus von Dohnanyi, Teil 3

Zu wenig Selbstbewusstsein, zu wenig Sinn für Geschichte und historisch gewachsene Zusammenhänge – in seinem Buch "Nationale Interessen" skizziert der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Klaus von Dohnanyi, die komplizierte Lage des europäischen Kontinents. "Vereinigte Staaten von Europa" seien nicht wünschenswert, Vielfalt sei gut, Vielstimmigkeit problematisch.

Hier der dritte und letzte Teil unseres Gesprächs mit Klaus von Dohnanyi, in dem es um den "Kerneuropa"-Gedanken geht, und darum, was sich aus der schleichenden Relativierung der amerikanischen Macht ergibt? Vor allem in Asien.

"Die drohende Gefahr eines Zerfalls der EU noch immer nicht begriffen"

Ihr Buch enthält eine eher skeptische Diagnose Europas. Sie sagen, ein Bundesstaat sei nicht möglich. Wir sollten Europa bestenfalls als Staatenbund denken.
Warum können wir nicht mehr Europa wagen? Zumindest in den westeuropäischen Gründungsstaaten. Es gab ja mal Vorstellungen von "Kerneuropa". Und aus der Geschichte kennen wir auch schon andere Formen einer viel enger gefassten Staatlichkeit: Wir könnten jetzt ans Römische Reich erinnern, an Karl den Großen oder an das Habsburgerreich...

Klaus von Dohnanyi: Das römische Reich, das Reich Karls des Großen, auch das Habsburgerreich wurden im Wesentlichen durch Erbschaften oder mit Gewalt zusammengehalten; nicht über gemeinsame Interessen. Diese waren regional innerhalb dieser Reiche oft sehr verschieden. Den letzten europäischen Versuch eines gewaltsam gefügten europäischen Reiches machte Napoleon vor 200 Jahren. Inzwischen wurde Europa immer wieder durch große Kriege zerrissen. Nationale Identitäten wurden dadurch bekräftigt und Unterschiede wie Gegensätzlichkeiten der Nationen vertieft.

Wir müssen sehen, dass es auch heute in Europa sozial und wirtschaftlich noch sehr unterschiedliche Interessen der EU-Staaten gibt. Wenn man das nicht berücksichtigt und versucht, einen engeren Zusammenhalt zentralistisch zu erzwingen, könnte die EU im Ganzen zerbrechen.

Der Brexit hat doch gezeigt: Die EU verlor einen der drei größten Mitgliedstaaten, weil Kommission, Parlament und letztlich auch der Rat die Einheitlichkeit der EU zentralistisch überforderten, zum Schaden Europas. Und auch der schwelende Streit mit Polen oder Ungarn beweist, dass Kommission und Parlament die drohende Gefahr eines Zerfalls der EU noch immer nicht begriffen haben.

Europa kann nur auf dem Weg einer geduldig voranschreitenden Föderation zusammengefügt werden. Es wäre sicher gut, wenn einige Länder da vorangehen könnten. Ich bin deswegen auch für die Idee eines "Kerneuropa" und auch der Meinung, dass eine französisch-deutsche Wirtschaftsgemeinschaft nützlich sein könnte, obwohl auch diese beiden Nationen oft sehr unterschiedliche Interessen verfolgen.

Charles de Gaulle hat es ja im Jahr 1962 versucht, nachdem sich die Briten in der Frage der "multilateral force" auf die Seite der USA geschlagen hatten. Damals war De Gaulle zutiefst enttäuscht, dass Großbritannien sich militärisch den USA angeschlossen hatte und so beriet er mit Adenauer, ob man Europa nicht am besten nur gemeinsam voranbringen könne, nur die beiden Länder. Adenauer hatte nach langem Zögern zugestimmt.

Es kam zum "Elysee-Vertrag", der damals zunächst wesentlich mehr sein sollte als Kultur- und Schul-Austausch. Aber dann gab es auch aus den USA und Großbritannien Widerstand. Man befürchtete dort, und auch in Teilen des Bundestages, eine Lockerung des westlichen Bündnisses und der Nato.

So wurde im Prozess der Ratifizierung des Elysee-Vertrages, wie ich in meinem Buch ausführlich schreibe, im Frühjahr 1963 dem Vertragstext eine Präambel vorausgeschickt, die eigentlich den ganzen Vertrag zunichtemachte, weil sie bedeutete: Für Deutschland ist die ganze Welt wichtig, und natürlich ist auch Frankreich wichtig.

Dazu hat Golo Mann den wundervollen Satz geprägt: "Der Vertrag wurde nullifiziert in dem Augenblick, in dem er ratifiziert wurde." Das war eine tragische Entwicklung, die Helmut Schmidt (der seinerzeit für die Präambel stimmte) im Jahr 1986 bedauerte.

"Kerneuropa" kaum noch realisierbar

Die "Kerneuropa"-Idee ist ja wesentlich jünger...

Klaus von Dohnanyi: Leider halte ich angesichts der Entwicklungen in Osteuropa heute auch ein "Kerneuropa" für kaum noch realisierbar. Die Staaten der EU, die nach dem Fall der Mauer nach Europa zurückkehren konnten, verfolgen mit US-amerikanischer Unterstützung eine europäische Außenpolitik, die sehr einseitig von ihren besonderen Erfahrungen unter russischer Herrschaft geprägt wurde. Das ist verständlich, aber diese Politik wird ja Russland nicht von der europäischen Landkarte streichen können.

Es ist paradox: Ohne die mutigen Leipziger Montagsdemonstrationen wäre vielleicht die Mauer nicht gefallen, der Warschauer Pakt nicht aufgelöst und das Baltikum nicht frei geworden. Und doch würden diese Länder heute eine Ostpolitik nach dem Modell Willy Brandts innerhalb der EU und der Nato entschlossen blockieren. Deutschland leistete zur Freiheit Europas einen entscheidenden Beitrag - und verlor dabei zugleich die seinen Interessen entsprechende außenpolitische Handlungsfreiheit!

Versuchen wir einmal optimistischer zu denken: Wenn es eine gemeinsame Außenpolitik Deutschlands und Frankreichs und vielleicht einiger zu Kerneuropa gehörenden Staaten geben würde, wie könnte diese Außenpolitik aussehen?

Klaus von Dohnanyi: Erstens: Wir sollten weiterhin in der Nato bleiben, aber Deutschland und Frankreich (und wer noch zum Kern gehören würde) sollten in der Nato eine eigene europäische Stimme erheben, um die militärisch geprägte Nato mit Diplomatie und Verständigungspolitik zu verbinden.

Zweitens sollte Europa dann die Stimme sein, die immer darauf besteht, auch die legitimen Interessen der außereuropäischen Partner zu verstehen und, soweit das mit den Interessen Europas vereinbar wäre, auch zu berücksichtigen. Die Nato wurde als ein Bündnis zur Verteidigung Europas gegründet, aber heute dominieren US-amerikanische Interessen das Bündnis und nicht europäische. Das muss sich ändern.

Drittens: Wir müssen in Europa eine Form der Kooperation der EU-Staaten organisieren, die die Vielfalt dieser Staaten positiv nutzt, und die nicht glaubt, dass möglichst viel Einheitlichkeit in Europa die EU voranbringen kann. Wir dürfen nämlich nie vergessen: Die große Geschichte Europas entstammt unserer Vielfalt, sie war und ist die Quelle europäischer Kreativität. Mit Vielfalt hat Europa die Welt geprägt.

Wenn wir glauben von Frau von der Leyen an der Spitze sollten wir erfahren, wo es langgeht, wird das nicht gutgehen. Keiner der großen Europäer, weder Monnet noch Delors, hat jemals vom Aufgeben nationaler Eigenständigkeit innerhalb der europäischen Gemeinschaft gesprochen.

Der Vorteil des Kerns Deutschland und Frankreich

Und europäische Alternativen zur Nato gibt es gar nicht?

Klaus von Dohnanyi: Man kann das ja alles versuchen. Aber die meisten Staaten der EU sind nicht zu einer wirklichen Verschmelzung der jeweiligen militärischen Einheiten bereit. Wir müssten wohl auch hier zunächst einen "Kern" mit Frankreich bilden.

Dieser Kern hätte ja vielleicht den Vorteil, die "Force de Frappe" einzuschließen, allerdings sicher ohne dass Frankreich sein alleiniges Verfügungsrecht aufgäbe. Um diesen Kern könnten sich wiederum auch andere scharen. Aber auch das wäre wiederum ein ehrgeiziges und sehr fernes Ziel.

Bild (Nov. 2018): © Superbass / CC-BY-SA-4.0

Klaus von Dohnanyi, dessen Vater Hans von Dohnanyi und dessen Onkel Dietrich Bonhoeffer im NS-Widerstand waren und vor Kriegsende hingerichtet wurden, wurde 1928 geboren, studierte in den USA und ist seit 1957 Mitglied der SPD, für die er zwischen 1969 und 1981 im Bundestag saß. In den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt war Dohnanyi Minister, zuvor Staatssekretär für Bildung und Wissenschaft (1969-1974), und Staatsminister im Auswärtigen Amt (1976-1981). 1981-1988 war Dohnanyi Erster Bürgermeister von Hamburg.

Kommen wir noch auf das Verhältnis zu Asien. Sie zitieren Texte, die die gegenwärtige Lage in unserem Verhältnis zu Asien mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs vergleichen. Es klingt so, als ob auch Sie diese Angst vor einer Urkatastrophe des 21 Jahrhunderts in Asien teilen. Können Sie das noch mal ausführen...

Klaus von Dohnanyi: Ich habe mich ja an diesen Stellen meines Buches auf mehrere Quellen bezogen. Zum Beispiel Paul Kennedys "The Rise of Anglo-German Antagonism", auf Kissinger oder Allison, die ja alle die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs aus der Sicht der Beziehungen zwischen England und Deutschland beschrieben haben; wie auch Christopher Clark ("Die Schlafwandler").

Deutschland war die aufstrebende Macht in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts, Frankreich hatte sich selbst durch Napoleon geschwächt und England wollte den Aufstieg Deutschlands nicht zulassen. Ich versuche in meinem Buch zu zeigen: Ein Weltkrieg entsteht leicht, wenn eine Weltmacht es nicht fertig bringt, ihre Relativierung als Weltmacht friedlich zu managen.

Das ist heute wieder der Fall: Die USA glauben, sie könnten China eindämmen. Das mag auf Zeit sogar gelingen. Aber die Gefahr, dass ein solcher Wettbewerb dann zu einem Weltkrieg führt, diese Gefahr haben aktuell Kissinger und Allison ausführlich beschrieben. Und Kissinger fragt: Wird Biden die Kraft haben, eine solche Politik der Abgrenzung und zugleich der Kooperation einzuleiten?

Das wäre, glaube ich, in der amerikanischen Innenpolitik heute kaum zu verkaufen. Insofern hat Kissinger ja recht, wenn er meint, das sei heute die größte Herausforderung für den amerikanischen Präsidenten.

Trump: "Es gab ja faktisch keinen Mitarbeiter, den er länger gehalten hätte"

Interessant ist ja, dass ausgerechnet Donald Trump dies ansatzweise versucht hat. Mit vielleicht den falschen Argumenten und nicht konsequent, aber hat er nicht versucht, sich aus internationalen Position zurückzuziehen und aus dem Anspruch dieser Alleinzuständigkeit für alles...

Klaus von Dohnanyi: Trump hat überall versucht, unternehmerische Erfahrungen für die Politik nutzbar zu machen. Er wollte "deals", also politische Geschäfte machen; mit Putin, mit Nordkoreas Kim, mit Iran usw. Aber er war völlig unfähig, auch nur das Personal dafür zu organisieren.

Es gab ja faktisch keinen Mitarbeiter, den er länger gehalten hätte; keinen Mitarbeiter, mit dem er wirklich zusammenarbeiten konnte. Ob "deals" ein möglicher Versuch sein könnten, wissen wir nicht. Trump ist an seinem Charakter, seiner Unzuverlässigkeit, seiner Medienbesessenheit und seinem Ego gescheitert. Auch außenpolitisch waren die Trump-Jahre für die westliche Welt verlorene Jahre.