So geriet die Friedensbewegung in die Nato-Sackgasse

Ostermarsch in München 2005. Bild: Rufus46 / CC-BY-SA-3.0

Von "Nine Eleven" bis zum Arabischen Frühling. Ein Blick auf die Wandlungen des Aktivismus gegen Militär und Krieg (Teil 2 und Schluss)

Die am 7. Oktober 2001 mit der Bombardierung von Afghanistan einsetzende Kriegslogik lautete: Zivilisation versus Barbarei, freie Welt gegen unfreien Islam, "Kreuzzug versus Heiliger Krieg". Mit der Konstruktion des US-amerikanischen "Wir" soll die Zerrissenheit der US-Gesellschaft vergessen gemacht werden.

In einer Zeit, in der mit Seattle 1999 eine breite Protestbewegung nach Jahren der Tristesse wieder im Aufwind ist, sollen die kritischen Stimmen in den USA zum Verstummen gebracht werden.

Trotz der medialen, aufs nationale Kollektiv einschwörenden Dauerbeschallung, die vornehmlich in den USA bestand, kehrte schließlich mit dem durch allerhand Lügen und Täuschungen vorbereiteten Krieg gegen den Irak 2003 eine machtvolle und internationale Friedensbewegung zurück.

In nahezu allen Hauptstädten Europas forderten Demonstranten ein Ende des Krieges, aber auch in den USA bildete sich eine Anti-Kriegsbewegung, die zwischenzeitlich ein viel größeres Ausmaß angenommen hatte als seinerzeit zu Beginn des Vietnamkrieges.

Etliche der Protagonisten dieser Bewegung fanden sich später in den Occupy-Camps ab Oktober 2011 ein. Antikriegsbewegung und diffus-antikapitalistische Bewegung, die auf die Banken- und Immobilienkrise von 2008 antwortete, verflossen so kurzfristig ineinander; in Deutschland stellte sich eine solche Allianz nicht her.

Auf der anderen Seite sollte das islamistisch-muslimische "Wir" wiederum verschwinden machen, dass gerade in islamischen Ländern Abertausende auf der Suche nach einem besseren Leben sind – und zwar nicht nur, indem sie fliehen. Die religiösen und kulturellen "Traditionen", die der Islamismus selbst konstruiert hat und die überlieferten Vorstellungswelten, die er fortwährend manipuliert, befinden sich schon längst in einem Auflösungsprozess, der mittels Identitätspolitik, Terror und patriarchaler Gewalt aufgehalten werden soll.

Doch auch hier konnte der terroristische Krieg, der der Logik eines "Clash of Civilizations" (Samuel P. Huntington) folgte, nur einen Aufschub bewerkstelligen.

In der muslimisch geprägten Welt sorgte der Arabische Frühling für ein chaotisches Aufbrechen aller möglichen Antagonismen und in den USA löste die Black-live-Matters-Bewegung die Occupy-Bewegung ab und die neue Regierung unter dem Islam-Hasser Donald Trump sorgte für ein erstaunliches Wiederaufleben linker, antikapitalistischer, antirassistischer und antisexistischer Bewegungen.

Der Islamismus, der ideologisch die für die Anschläge von Nine Eleven verantwortliche Gruppe al-Qaida antrieb, stellte für viele Linke und Friedensfreunde eine gehörige Überforderung dar.

Die islamistische Gruppe setzte sich unter der Führung Bin Ladens aus Angehörigen eines Teils der von Führungspositionen ferngehaltenen arabischen Elite zusammen, die im Kampf um die Herrschaft im Nahen und Mittleren Osten mitmischen will.

Meinte die antiimperialistische Solidaritätsbewegung der späten 60er in ihrem Kampf gegen den Vietnamkrieg noch eine Kombattantenseite einnehmen zu können und skandierte "Ho ho Ho Chi Minh", so fehlte es der Antikriegsbewegung an einem Identifikationsobjekt. Das konnten die Taliban oder die al-Qaida-Gruppen freilich nicht sein.

Auch spätere Versuche, sich mit dem ominösen "irakischen Widerstand" zu solidarisieren, die zeitweise auch die junge Welt prägte, wurden rasch eines Besseren belehrt und nach relativ kurzer Zeit sang- und klanglos abgeblasen.

Wo eine Sympathiebekundung mit dem Gegner der kriegerischen USA ausbleiben musste, konnten einige Friedensfreunde ihr Bedürfnis nach Klarheit und manichäischer Gut-Böse-Unterscheidung nur aufrechterhalten, indem sie den Islamismus ganz aus ihrem Weltbild eskamotierten.

In zugespitzter Form betrieben das einige Verschwörungstheoretiker, die jenseits jeglicher Plausibilität und umso größerer faktensammelnder Spitzfindigkeit der US-Regierung selbst das Attentat vom 11. September überantworteten.

In der Frage nach dem Cui bono steckt allerdings auch ein aufklärerischer Skeptizismus. Bei aller Kritik von Verschwörungstheorien darf nicht vergessen werden, dass jeder Krieg nicht nur im 20. Jahrhundert mittels einer im späteren Verlauf der Geschichte aufgedeckten Praxis der Verschwörung der Herrschenden vorbereitet wurde: über den Gegner Lügen streuen, die Öffentlichkeit täuschen, Kriegspläne aushecken.

Die Nazis bereiteten ihren Griff nach Osten und ihre Weltmacht anstrebende Kriegspolitik heimlich vor, täuschten über angebliche Friedensabsichten des "Dritten Reiches" und aktualisierten althergebrachte Verschwörungsideologie, die sie ihren Zwecken entsprechend modernisierten.

Das antisemitische Bild der allmächtigen und kriegerisch alles neu ordnen wollenden "Weisen von Zion" ist nicht nur antijüdisches Phantasma, sondern kalkulierte Kriegspropaganda und Projektion eigener Weltmachtphantasien auf "den Juden".

Artikulierte Skepsis gegenüber offiziellen Versionen der herrschenden Politik sind dabei radikal zu unterscheiden von solchen Verschwörungsideologien der Herrschenden selbst, die eine ganz andere mörderische Dynamik entfalten können.

Die kritischen Fragen zu Nine Eleven, die in den USA beispielsweise der Filmemacher Michael Moore stellte, waren dort eminent unbequem.

Denn in den USA erhoben sich unter George W. Bush jr. neokonservative Stimmen, die sich politikberatend durchsetzen konnten. Lügen und Täuschungen waren diesem Programm inhärent, wie die Geheimdienstbehauptung, der Irak besäße Chemiewaffen.

Ihre Ideologie "Demokratie" müsse "exportiert" werden, blamierte sich nicht erst mit dem Abzug aller westlichen Soldaten aus Afghanistan im Sommer 2021, sondern auch angesichts der sozialen wie politischen Situation im Irak.

2003 sah die Welt eine der größten gleichzeitigen weltweit stattfindenden Bewegungen: die Demonstrationen gegen den US-Krieg gegen den Irak. Am 18. Januar 2003 fand beispielsweise in Washington D.C. die größte Antikriegsdemonstration seit fast dreißig Jahren statt. Je mehr Bomben auf Bagdad fielen, desto deutlicher das tatsächliche Gesicht des Krieges, nämlich das blutige, zutage trat, desto größer wurde weltweit die Friedensbewegung – auch in Deutschland.

Eine besondere Rolle in der hiesigen Bewegung spielten, wie bereits 1991 beim ersten US-Golfkrieg unter George Bush sen. Führung, Schülerinnen und Schüler, die eine Friedenssehnsucht artikulierten, in der stets anderes Begehren und andere Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen: Unterbrechung des Schulalltags, Ausbruch aus altgewohnten Strukturen, das Erleben von Stärke und Gemeinschaft in einer hedonistischen und dennoch kritischen Masse.

Zehntausende, meist junge Menschen drangen auf die Straße, nicht nur hierzulande, auch in Ländern wie England, Spanien und den USA, die direkt am Krieg gegen den Irak beteiligt waren oder deren Regierungen ihn unterstützten.

Wer sich in Frankreich und Deutschland als Teil der Friedensbewegung auf die Straße begab, setzte sich allerdings der Gefahr aus, nicht mehr unterschieden zu werden von denjenigen, die chauvinistisch motiviert das Ende der amerikanischen Hegemonie verkünden und eine Stärkung der europäischen oder nationalstaatlichen Position verlangen.

Auch drohte mit dem Verschwinden des klassischen linken Antiimperialismus, dem immer eine – wie fehlerhaft oder verkürzt auch immer – materialistische und marxistische Strukturkritik zu eigen war, dass die USA-Kritik verwechselbar wurde mit moralisierenden Anklagen gegen die unverschämte und "eingebildete Weltmacht" – nicht zufällig Aufmacher eines Spiegel-Titels aus dieser Zeit.

Fast schien es so, als begleitete die Friedensbewegung um 2003 rhetorisch und affirmativ einen vor sich gehenden historischen Prozess: die Auflösung des Atlantizismus, dessen Herausbildung sie in den 50er-Jahren erfolglos bekämpfte.

Dieser Atlantizismus, die westliche Wachstumsgemeinschaft, die über eine Verbindung von Warfare- und Welfare-Ökonomie zusammengehalten wurde, hatte als Grundlage den US-Dollar als gültige Weltwährung. Im Dollar waren Fortschritt, Entwicklung, zukunftsweisende Produkte und eine halbwegs stabile Ausbeutungsordnung verkörpert, die sich in den Ländern des imperialen Lebensstils konsumistisch auszahlte.

Mit dem Auftreten der Konkurrenzwährung Euro und dem schwindenden Vertrauen auf die produktive Macht, die hinter der US-Banknote steht, gerät die US-Dollar-Hegemonie und der Atantizismus in eine Krise.

Die USA handelten bereits nach Nine Eleven aus einer Position der Schwäche. Nach dem Ende des ökonomischen Booms der 1990er-Jahre und psychologisch schwer getroffen von der Attacke des 11. September begab sich die US-Administration unter dem Unilateralisten George W.Bush in die Gefahr des vom Historiker Paul Kennedy schon lange beschworen imperial overstretching.

Die Weltmacht versagte selbst in ihrer letzten starken Rolle: als Weltpolizist. Der rasche Sieg gegen den Irak entpuppte sich als Pyrrhussieg. Moralisch verloren die USA den Krieg mit Kriegslügen, Folterskandalen, der beliebigen Einkerkerung von muslimischen Gefangenen in Guantánamo.

Fernab der Empörung über das Töten und Sterben im Irak bemerkten viele Bundesbürger, dass die Kriegspolitik der USA nicht in eine neue Phase der Prosperität führen wird, die sich positiv auf Europa auswirken könnte. Ein "Fühlen", das 2008 mit der weltweiten Finanzkrise auch eine Bestätigung erfuhr.

Die Kriegsgefahr nahm in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts zu, die friedensbewegten Mobilisierungen blieben aus. Die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg 2003 ebbte noch schneller ab als diejenige zu Golfkriegszeiten 1991.

Der syrische Bürgerkrieg ab 2011 trübte den anfangs hoffnungsvollen Blick auf einen demokratischen Aufbruch in dem autoritär durch die Baath-Partei verwalteten Land. Neue internationale Akteure wie der Iran, die Türkei oder Russland engagierten sich militärisch im syrischen Bürgerkrieg, der zu einem Stellvertreterkrieg wurde.

Die militärische und strategische Verstrickung der USA in verschiedenen Schauplätzen befeuerte das Bürgerkriegschaos, das kein Ende nehmen wollte: in Afghanistan, wo die Taliban nach wie vor terroristisch aktionsfähig sind, im Irak, wo zwischenzeitlich weite Teile vom Islamischen Staat besetzt und brutal verwaltet wurden oder auch in Syrien, wo in einer Mischung aus leeren Drohungen, versteckter Unterstützung und Waffenlieferungen an die Opposition und wechselnden Kooperationen der Bürgerkrieg mehr verlängert als wirkungsvoll eingedämmt wurde.

Die kriegerischen Interventionen im Arabischen Frühling, besonders das von Frankreich forcierte und zusammen mit den USA und Großbritannien organisierte Wegbomben der Herrschaft Gaddafis 2011, sorgte für eine weitere Chaotisierung des Weltsystems an den Rändern Europas. Russland und China wurden damals über den Tisch gezogen, die Libyen betreffende Uno-Resolution sah Schutz der Bevölkerung vor, nicht das gewaltsame Absetzen eines Herrschers.

Der libysche Staat unter Gaddafi stellte bislang ein autoritäres Bollwerk gegen den Islamismus dar und hatte eine eindämmende Funktion als von westlichen Anrainerstaaten gut bezahltes Migrationsregime.

Nach der Machtübernahme von konkurrierenden Banden in Libyen war einer der vielen Hauptmigrationswege nach Europa offen. Durch diese Entwicklung und Erfahrung war die Tür geöffnet für eine diskursive Verbindung von migrationsfeindlichen Sentiments mit gegen die USA gerichtetem Anti-Interventionismus.