Was der Neoliberalismus im Alltag bedeutet

Frauenfeindlich, regressiv: Sogenannter Marsch für das Leben in Berlin, hier 2012. Bild: Turris Davidica, CC BY-SA 3.0

Wenn sich die politische Linke zu westlichen Werten bekennt, wird deren neoliberaler Gehalt vielfach übersehen. So bleibt unklar, wer politischer Verbündeter ist, wer Gegner (Teil 3 und Schluss)

Nicht nur in traditionellen Gesellschaften, sondern auch im stärker emanzipierten Westen gibt es zunehmenden Widerstand gegen das neoliberal geprägte Werteverständnis. Zwar wird der gegenwärtige wirtschaftspoltische Kurs von den meisten Bürgern angesichts ihres eingeschränkten Urteilsvermögens akzeptiert, woran die Linke wegen versäumter Aufklärungsarbeit eine Mitschuld trägt.

Gleichwohl führt das sich schleichend durchsetzende "Recht des Stärkeren" und die damit einhergehende soziale Kälte zu wachsendem Unbehagen. Je tiefer jemand in konventionellem Denken verankert ist, desto größer ist die Diskrepanz zwischen den alltäglichen Erfahrungen und dem eigenen Anspruch von Moral und Anstand.

Trotz der Vielfalt an Formen zwischenmenschlichen Umgangs in verschiedenen Erdregionen finden sich in allen Wertesystemen Forderungen nach Rücksichtnahme auf die Mitbürger und Verantwortung für die Gemeinschaft. Diese gehen notwendig mit der Einschränkung individueller Freiheiten einher, was im Zuge der Sozialisation verinnerlicht und ohne Widerstreben umgesetzt wird.

Ein entsprechendes Sozialverhalten wird im Familienkreis, unter Freunden und im Umgang mit anderen nahestehenden Personen als Selbstverständlichkeit empfunden. Beispielsweise werden provozierende Äußerungen vermieden, abweichende Ansichten und Verhaltensweisen toleriert, die Interessen der Betroffenen bei Entscheidungen berücksichtigt und ein Konsens bei gemeinsamen Vorhaben angestrebt.

Im dritten und letzten Teil der Serie wird wird der wachsende Widerstand gegen die neoliberale Prägung des westlichen Werteverständnisses thematisiert. Im ersten Teil wurde diskutiert, wie sich die Linke westlichen Wertvorstellungen unterwirft, obwohl ihre politischen Kernziele nur bedingt mit ihnen vereinbar sind. Im zweiten Teil wurde der neoliberale Gehalt westlicher Wertesysteme illustriert und untersucht, wie er sich historisch etablieren konnte.

Verantwortungsvolles Handeln, Rücksichtnahme und Konsensstreben verlangen ein Nachgeben jener Akteure, die sich jeweils in einer stärkeren Position befinden. Sie müssen bereit sein, auf die Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten, ohne eine Gegenleistung, etwa materieller Art zu erhalten. Solches kann in einer Welt individualisierter Personen, deren Schicksal vom Durchsetzungsvermögen in Konkurrenzsituationen abhängt, nicht erwartet werden.

Anders ist die Lage dort, wo Gemeinsinn vorherrscht. Wer zurücksteckt, erwirbt das Vertrauen des Gegenparts und erzeugt bei ihm das Gefühl, fair und gerecht behandelt zu werden. Der Stärkere erwirbt eine natürliche Autorität und kann mit Anerkennung und Unterstützung rechnen, anstatt auf Argwohn und Opposition zu stoßen.