Ukraine-Krieg: Von Sanktionen zum Embargo

Wie Politiker die wirtschaftliche Entwicklung zerstören und sich dabei laut auf die Schulter klopfen

Bundeskanzler Olaf Scholz hielt am 6. Mai eine Rede vor dem Übersee-Club in Hamburg. Dieses Gremium der deutschen Wirtschaft feiert seinen 100. Geburtstag, gegründet wurde es 1922 auf Initiative von Max Warburg. Aus aktuellem Anlass legte der Bundeskanzler dort einige Gedanken zum Thema Krieg und Wirtschaft vor.

"Sehr viele kluge Köpfe" hätten eine Eskalation wie aktuell zwischen Russland und der Ukraine für unmöglich gehalten, weil in den vergangenen 30 Jahren die internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen immer enger geworden sind: "Rational betrachtet macht die enge Verflechtung der Volkswirtschaften kriegerische Konflikte längst so kostspielig, dass kein Akteur auf die Idee kommen dürfte, zu diesem Mittel zu greifen", erläuterte Olaf Scholz einen Gedanken, der in der Politikwissenschaft auch unter dem Stichwort "Interdependenz" diskutiert wird.

Dass es nun erneut zu einem Krieg gekommen ist, liegt nach Darstellung des Bundeskanzlers daran, dass sein russisches Gegenüber eben nicht rational handle. Der russische Präsident Wladimir Putin sei ein irrationaler Akteur, der "aus ideologischer Verblendung" die Idee der Kooperation in den Wind schlage. Wladimir Putin hänge einer "imperialistischen und revanchistischen Ideologie" an und dies bedeute ihm mehr als das Wohlergehen des eigenen Volkes. Diese These erfreut sich in der medialen Öffentlichkeit großer Beliebtheit. Seit Jahren stellen Spiegel, Springer und Co. die angebliche mentale Verfasstheit von "Putin" in den Mittelpunkt ihrer Welterklärungen.

Aber, so der Bundeskanzler vor den versammelten Vertretern der Wirtschaft, eine "Deglobalisierung" würde nicht funktionieren. Es sei falsch, den Krieg zum Anlass zu nehmen, um die Globalisierung zurückzudrehen und sich abzuschotten, immerhin profitiere Deutschland von der Globalisierung: "Handel schafft Arbeitsplätze, und zwar auch hierzulande."

Dies klang so, als wolle die Bundesregierung an einer rationalen Außenpolitik und dem Primat der Kooperation festhalten. Während der Olaf Scholz dies vortrug, unterstützt seine Regierung allerdings auf EU-Ebene sehr weitgehende Sanktionen gegen Erdölimporte aus der Russischen Föderation und eine Abkopplung der größten russischen Bank vom internationalen Finanzmarkt.

Massive negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft

Diese Maßnahmen laufen auf ein umfassendes Embargo gegen Russland hinaus. Sie sind Teil des nunmehr sechsten Sanktionspaketes gegen Russland und werden absehbar massive negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, die EU-Staaten und ganz prominent auch auf die deutsche Wirtschaft haben.

Schon Ende Mai will die EU über ein noch weitergehendes Embargo beraten, das auch Erdgas betreffen soll. Der bulgarische Präsident Rumen Radew sprach mit Blick auf das aktuell vorliegende Paket von einer "wirtschaftlichen Selbstvernichtung Europas" und mahnte mehr Einsatz für Friedensgespräche an. Die Regierung in Ungarn kündigte gar ihr Veto an.

"Ungarn wird nicht für dieses Paket stimmen, denn die ungarischen Menschen dürfen nicht den Preis für den Krieg bezahlen", so Außenminister Peter Szijjarto. Das Sanktionspaket halte keine Lösungen dafür bereit, wie ausfallende Importe ersetzen werden können. "Dieser Brüsseler Vorschlag kommt einer Atombombe gleich, die auf die ungarische Wirtschaft abgeworfen wird", warnte er.

Krieg gegen Russland: "Bis zum letzten Ukrainer"

Tatsächlich lassen sich auf politischer Ebene weder in Berlin noch in Brüssel irgendwelche positiven Ziele in Bezug auf die Ukraine ausmachen, es herrscht allgemein Begeisterung für destruktive Maßnahmen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte laut FAZ bereits kurz nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, Ziel der Wirtschaftssanktionen sei es, der Wirtschaft zu schaden, die Inflation in die Höhe zu treiben und die industrielle Basis zu erodieren - also in Russland.

Diese Vorgabe wurde auch bei der Vorstellung des Sanktionspaketes erwähnt: Die Sanktionen sollen der russischen Staatsführung "die Finanzierung des Krieges erschweren und spürbare wirtschaftliche Kosten auferlegen". Damit bewegt sich die EU-Kommission sehr eng an einer Formulierung, die Joe Biden bereits während seines Wahlkampfes im Jahr 2020 benutzte: Man müsse Russland "echte Kosten" für seine Verstöße gegen internationale Normen auferlegen.

In welchem Zeitraum diese Maßnahmen - die militärische Aufrüstung der Ukraine und Wirtschaftssanktionen gegen Russland - zu irgendeiner Verbesserung für die ukrainische Bevölkerung führen sollen, ist schlicht nicht Thema der Debatte.

Dabei besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Russische Föderation und eine von den Nato-Staaten unterstützte Ukraine über ausreichend militärische Kapazitäten verfügen, um diesen Krieg unendlich fortzuführen. Genauso klar ist, dass die russische Regierung sich durch Sanktionen nicht einfach zu einer Änderung ihrer Politik bewegen lässt.

Wie zum Nachweis zählt die Kommission sorgfältig auf, was sie in den letzten acht Jahren veranlasst hat, um die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland zu beschädigen. Allerdings haben diese Sanktionen die russische Führung genauso wenig zu einer Verhaltensänderung bewegt, wie andere Sanktionen - etwa gegen den Iran, Syrien, Venezuela oder Kuba - jemals ihre öffentlich akklamierten Ziele erreicht hätten.

Die aktuellen Sanktionen richten sich - kleines Detail am Rande - auch gegen Wirtschaftsgrößen wie Roman Abramowitsch, der maßgeblich an den Verhandlungen zwischen der russischen und ukrainischen Regierung in der Türkei beteiligt war.

Verhandlungen auf politischer Ebene?

Ohnehin sind diese Verhandlungen auf politischer Ebene bereits seit Anfang April überhaupt kein Thema mehr. Zumindest in der Diskussion in den USA ist klar, dass dort kein Interesse an einem Waffenstillstand, einer friedlichen Regelung oder irgendwelchen Verhandlungen besteht.

Tom Mockaitis schrieb Anfang Mai, dass die militärische Pattsituation eigentlich eine Möglichkeit für Verhandlungslösungen biete. Unter solchen Bedingungen hätte Washington alles tun können, um die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen.

Stattdessen gebe die Regierung "unnötig provokative Erklärungen" ab, wenn etwa Verteidigungsminister Austin und Außenminister Blinken eine "Schwächung Russlands" als das eigentliche Ziel ausrufen. Dies könnte die Krise eskalieren und den Konflikt "auf zynische Weise als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland darstellen, der auf Kosten des ukrainischen Blutes geführt wird", so der Historiker.

Während Tom Mockaitis seine Regierung nur ermahnt, diesen Eindruck zu vermeiden, reden Experten für internationale Beziehungen längst Klartext. Von Fox bis MSNBC behandeln Moderatoren den Ukrainekonflikt ganz selbstverständlich als Krieg der Vereinigten Staaten gegen Russland. John Mearsheimer stellt fest, die USA und Russland befinden sich "faktisch im Krieg gegeneinander".

Man könne argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen: "Und das Endergebnis ist, dass die Ukraine als Land tatsächlich zerstört wird." Dieses Ergebnis sei auch deshalb wahrscheinlich, weil die ukrainische Regierung nicht die Macht habe, dem Ganzen ein Ende zu setzen:

Und ich glaube, dass die Vereinigten Staaten es nicht zulassen werden, dass die Ukrainer eine Vereinbarung treffen, die für die Vereinigten Staaten inakzeptabel ist.

John Mearsheimer

Stephen Walt wiederum witzelte, ihn würde es wundern, wenn Menschen gleichzeitig Putin und sein Umfeld für irrational, paranoid und empathiefrei hielten, sich aber ganz sicher seien, dass sie nicht zu Massenvernichtungswaffen greifen werden.

Aber der Harvard-Professor gibt auch ernsthafte Hinweise, die insbesondere für die Europäer relevant sind.

Zum einen müsse das sogenannte Sicherheitsdilemma berücksichtigt werden. Es entsteht dadurch, dass die Schritte, die ein Staat unternimmt, um sich sicherer zu fühlen, oft dazu führen, dass andere weniger sicher sind.

Ein Bedrohungsgefühl kann also eine Rüstungsspirale verursachen, in deren Folge beide potentielle Kontrahenten ärmer und weniger sicher sind als zuvor. Langfristig ist es demnach unerheblich, wie legitim die Sorgen waren, welche etwa die osteuropäischen Staaten motiviert haben, bei der Nato-Erweiterung mitzuziehen.

Zweitens gelte es, den Grundsatz der geografischen Nähe in den internationalen Beziehungen zu beachten, so Walt. Die Nähe eines Gegners mit offensiven Fähigkeiten führt demnach dazu, dass Staaten beispielsweise in Westeuropa erheblich höheren Risiken ausgesetzt sind als etwa die Vereinigten Staaten, welche umgeben von zwei Ozeanen mit der "stoppenden Kraft des Wassers" gesegnet sind.

Aktuell haben die Aktionen Russlands gegen die Ukraine "die Wahrnehmung der Bedrohung im Westen dramatisch verstärkt", insofern sei es nicht überraschend, dass Deutschland und die EU in ein engeres Bündnis mit den USA drängen.

Allerdings kommen wegen der räumlichen Nähe relativ betrachtet auch sehr viel höhere Risiken und Kosten auf sie zu.