Kritik des Sofa-Bellizismus

Der hasardeurhafte Umgang mit der zunehmenden Atomkriegsgefahr gehört dringend auf die politische und mediale Tagesordnung

Der grassierende Sofa-Bellizismus überschlägt sich mittlerweile in Ton und rüstungspolitischen Postulaten. Dass dabei im schlimmsten Fall nichts weniger als ein Atomkrieg in Europa riskiert wird, beweist nicht etwa Mut, sondern die erschreckende Apokalypse-Blindheit der Verantwortlichen in Medien und Politik.

Es ist die Zeit der galoppierenden Radikalisierung. Und die Zeit der schamlosen Bagatellisierungen.

Seit Wochen liefern sich die Leitmedien und die von ihnen gehetzte Politik einen atemberaubenden Überbietungswettbewerb, die anzustrebenden westlichen Kriegsziele in der Ukraine betreffend. Ging es zu Kriegsbeginn noch darum, die Kampfhandlungen schnellstmöglich zu stoppen und Blutvergießen wie Zerstörungen zu beenden – immerhin gab es zeitweise ernsthafte Verhandlungen zwischen beiden Seiten –, soll der Krieg nun laut EU-Außenminister Josep Borrell "on the battlefield" gewonnen werden.

Mittlerweile reicht auch das nicht mehr. "Wir wollen", so sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. April, "dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist." Immerhin, so Austin hoffnungsfroh, habe Russland durch den Krieg bereits "viele militärische Fähigkeiten eingebüßt und viele seiner Truppen verloren".

Die Gefahr eines Atomkrieges …

Die Konsequenz: Der Westen – allen voran die USA und, wie immer, nach anfänglichem Zögern auch die Bundesregierung – liefert nun auch schwere Waffen.

"Putins Krieg" ist in den Gazetten und Talkshows angesichts der tatsächlichen oder angeblichen russischen Kriegsverbrechen – hier wären dringend Untersuchungen der OSZE geboten, um die nötige Klarheit zu schaffen – längst zu "Russlands Krieg" mutiert, "der Russe" zeigt wieder sein barbarisches Gesicht.

Zerstörungsradien bei der Explosion einer SS-25 in deutschen Hauptstädten (16 Bilder)

Voraussichtliche Zerstörung beim Einschlag einer russischen SS-25 mit 800 Kilotonnen in Kiel. Bild: Screenshot Nukemap. Eine ausführliche Legende zu den Zerstörungsradien finden Sie hier.

Kurz: Der Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland auf dem Boden der Ukraine soll bis zum allerletzten ukrainischen und russischen Soldaten ausgekämpft werden.

Und da beide Akteure Atomwaffenstaaten sind und keine Seite sich einen Gesichtsverlust leisten kann, gerät der Einsatz taktischer Atombomben durchaus in den Bereich des Möglichen. Die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland, die sich bereits zu Euromaidan-Zeiten sehr drastisch exponiert hatte, sicherte der Ukraine für den Fall der Fälle schon mal zu, die USA würden das Land bei einem russischen Atomangriff nicht alleine lassen – was auch immer dieses ominöse Versprechen bedeuten mag.

Alleine die Tatsache, dass solche Szenarien mittlerweile ernsthaft in Erwägung gezogen werden, ist in höchstem Maße alarmierend und sollte eigentlich, wie vor 40 Jahren zu Nachrüstungszeiten, die Menschen aller europäischen Staaten zu Hunderttausenden auf die Straße treiben.

Der Skandal besteht nicht nur darin, dass nichts dergleichen geschieht. Er wird noch dadurch überboten, dass in Politik und Medien mediokre Gestalten mit großem Mundwerk, durchschnittlichem Verstand, erschreckend wenig Verantwortungsbewusstsein und einem völligen Ausfall an Fantasie die Gefahr auf das Kriminellste bagatellisieren, im schlimmsten anzunehmenden Fall gar noch anheizen.

… und ihre Bagatellisierung

Besonders weit legte sich kürzlich unter der originellen Überschrift "Wie ich die Bombe lieben lernte" ein seltsamer Spiegel-Gastautor aus dem Fenster, der – so rasant radikalisieren sich gegenwärtig Ton und Forderungen – noch im Dezember letzten Jahres lediglich kokett dafür plädiert hatte, "mehr Kalten Krieg zu wagen" und "Putin vor sich herzutreiben".

Aber mit solch zurückhaltenden Postulaten gibt sich ein ehemaliger Bild-Chefredakteur Nikolaus Blome heute längst nicht mehr zufrieden: "Es braucht die Bombe für Deutschland. Denn es sind Atomwaffen, die den Atomkrieg bis heute verhindert haben", rüttelt der Sofa-Bellizist mutig die friedensverweichlichte deutsche Gesellschaft wach.

Die logische Konsequenz der Argumentation des ehemaligen Bild- und Spiegel-Spitzenjournalisten: Gebt allen Staaten Atombomben, dann wird schon Friede auf Erden herrschen!

Womit er sogar Recht behalten könnte. Allerdings in einem etwas anderen Sinne.

Der ehemalige Leiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, mag es in dem von ihm initiierten Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz etwas moderater:

Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.

Dass die Dinge sich verselbständigen und allen Akteuren entgleiten könnten, dass wir uns möglicherweise in einer ähnlichen Situation befinden wie die berühmten "Schlafwandler" von 1914, auf diese Idee kommen der Ex-Maoist, für dessen Übervater in den Siebzigerjahren die Atombombe bekanntlich sowieso nur ein "Papiertiger" war, und seine prominenten aufrüstungsfreudigen Mitunterzeichner nicht!

Am geschicktesten macht es Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ die Grünen). Sie geht scheinbar auf "die Sorgen der Menschen vor einem Atomkrieg als Worst-Case-Szenario" ein: "Wem das keine Angst macht, der ist entweder unehrlich oder hat die Lage nicht verstanden."

Aber "wir können auch nichts komplett ausschließen. Und wir haben eine Verantwortung, immer die Risiken deutlich machen und auf der anderen Seite keine Panik schüren."

Ängste verstehen, Risiken deutlich machen, keine Panik schüren – der Baerbock'sche Dreiklang ist ein Klassiker der Bagatellisierung und Einschläferung. Denn es fehlt der entscheidende Satz: "Im Übrigen eskalieren wir weiter wie bisher!"