Butscha: Das Kriegstrauma und das Schweigen aus Moskau

Untersuchung in Butscha. Foto (8. April 2022): National Police of Ukraine/CC BY 4.0

Die Vorwürfe aus der Ukraine gegen russische Militärs wegen begangener Kriegsverbrechen haben eine ungeheuerliche Dimension erreicht. Internationale Ermittler sollen aufklären

Butscha ist in der öffentlichen Sphäre zu einem Synonym für die Brutalität der russischen Kriegsführung geworden. Der polnische Präsident Andrzej Duda betonte bei seinem Auftritt vor dem ukrainischen Parlament die Bedeutung der Vorwürfe: "Nach Butscha, Borodjanka, Mariupol kann es mit Russland kein 'business as usual' mehr geben".

Was die "Schluss-jetzt"-Formel genau bedeutet, ist zweitrangig, offenbar weniger wichtig als das Signal, das mit Butscha und den anderen Orten der Kriegsleiden verbunden ist. Konkretisiert hat Duda seine Forderung nicht. (Ergänzung: Dafür sprach Selenkskyj vor dem Word Economic Forum Davos davon, dass die "Global Business Elite Russland weiter bestrafen" solle.)

Ähnlich wie bei seiner Aussage, wonach "nur die Ukraine das Recht habe, über seine Zukunft zu entscheiden", kam es dem polnischen Präsidenten Duda gegenüber den ukrainischen Abgeordneten offenbar vor allem auf die Demonstration einer Haltung an, die unbedingte Unterstützung signalisiert.

In der politischen Realität haben die Länder, die die Ukraine gegen den russischen Angriff mit großen Mitteln unterstützen, allen voran die USA, wohl mehr als nur ein "Wörtchen" mitzureden. Der Krieg in der Ukraine ist zu einem großen, maßgeblichen Teil ein Stellvertreterkrieg.

Die Gräueltaten von Butscha spielen eine wichtige Rolle bei der Meinungsbildung, die sich die Öffentlichkeit vom Kriegsgeschehen und vom Vorgehen der russischen Streitkräfte macht. Damit wird auch politischer Druck gemacht. Umso notwendiger ist eine akribische, unabhängige Ermittlung.

Fundierte Gegendarstellungen aus Moskau?

Erstaunlich ist bis dato, dass es von offizieller Seite aus Moskau - abgesehen von einem frühen Antrag auf eine UN-Sicherheitsratssitzung zum Thema, der abgelehnt wurde -, kein Versuch bekannt wurde, den Vorwürfen mit fundierten Gegendarstellungen zu begegnen.

Zumindest war dies nicht laut oder entschieden genug, so dass sie in der westlichen Öffentlichkeit wahrgenommen worden wäre. Es bleibt auf Grundlage der westlichen Berichterstattung der Eindruck, dass sich die Führung im Kreml weiter damit begnügt, dass es sich bei den Vorwürfen um bloße Propaganda, Fake, false-flag-Operationen u.ä. handelt.

Der "Alles Propaganda"-Behauptung steht eine ganze Reihe von Berichten gegenüber, die in den letzten Wochen erschienen, in denen viele Augenzeugen und Opfer zu Wort kommen, die russische Armeeangehörige schwer belasten. Ihnen werden Tötungen von am Kampfgeschehen unbeteiligten Zivilisten vorgeworfen, das Töten von Kriegsgefangenen sowie Vergewaltigungen von Zivilisten.

"1.000 tote Zivilisten"

So gibt es etwa einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, einen Bericht mit Aussagen von Augenzeugen, der Mitte April in der New York Times erschien. Am 12. Mai veröffentlichte Le Monde einen Bericht, der sich auf Aussagen von Augenzeugen und Opfer stützt, über Vergewaltigungen, die russische Soldaten begangen haben sollen.

Scrollt man in dieser Zeitung etwas zurück, so zeigt sich die Dimension der nötigen Aufklärungsarbeit. Am 13. April berichtete Le Monde mit Bezug auf Angaben des ukrainischen Innenministers, dass "720 Zivilisten während russischer Besatzung in Butscha und Umgebung von Kiew getötet wurden und 200 Personen als vermisst gelten".

Die Genauigkeit, die mit der Angabe von 720 getöteten Zivilisten suggeriert wird, gerät durch die Ortsangabe "Butscha und Umgebung" schon auf einen etwas weniger festen Boden; über Suchmaschinen stößt man schnell auf andere Opferzahlen, denen eine bestürzende Größenordnung gemeinsam ist.

So zum Beispiel auf "1.000 Zivilisten", die, wie vor einer Woche eine BBC-Korrespondentin aus Butscha berichtete, "während eines Monats unter russischer Besatzung in der Region Butscha getötet" wurden. Die meisten seien "nicht durch Granatsplitter oder Beschuss" gestorben, erfährt die Leserschaft: "Mehr als 650 wurden nach Angaben eines hohen Polizeibeamten von russischen Soldaten erschossen."

Laut ukrainischen Sicherheitsbehörden, die von der BBC zitiert werden, wurden bislang mehr als "11.000 potenzielle Kriegsverbrechen registriert".

Die Zahl ist ungeheuerlich; viele Dimensionen zu groß, um sie mit "Fakes" weg zu erklären. Wer überprüft die Fälle? Laut einem SZ-Bericht vom vergangenen Donnerstag1 sammeln nicht nur ukrainische Ermittler "seit Wochen Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen", sondern auch internationale Experten.

Ermittlungen des ICC

42 Experten hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IStGH, engl. ICC) in die Ukraine entsandt, so der IStGH-Chefankläger Karim Khan Anfang vergangener Woche. Darunter Spezialisten für Spurensicherung und Zeugenvernehmung.

Bereits vor Ort sind französische Experten, weitere Spezialisten sollen von den Niederlanden "zur Verfügung gestellt worden sein", berichtet die SZ. Auch das deutsche BKA führe Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen, habe aber "aus Sicherheitsgründen keine eigenen Beamten entsandt, sondern stattdessen nur Material und Geräte". Darüber hinaus habe das BKA die Bereitschaft bekundet, "in Nachbarländern Schulungen zur Opferidentifizierung durchzuführen".

Da die Ukraine ausdrücklich die Zuständigkeit des Gerichts für sein Gebiet anerkannt hat, genügt dies, damit die Den Haager Ermittler und Ankläger tätig werden können.

Auch die USA, die wie auch Russland und China die Legitimität des Gerichtshofs nicht anerkennen und folglich kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs ist, würden sich an den Ermittlungen beteiligen – mit einer "Konfliktbeobachtungsstelle". Dass hier ein politisches Interesse das Schwungrad in Bewegung setzt, wird nicht zuletzt am prominent dargebotenen Mission-Statement des US-Außenministers Blinken sichtbar.

Das politische Interesse daran, Kriegsverbrechen der russischen Armee offenzulegen und international bekannt zu machen, ist aber kein zureichendes Argument für die Gegenseite, um die Vorwürfe als bloße Propaganda hinzustellen.