Ist das Kunst, oder kann das weg?

Bild: AACAA DGA / CC-BY-SA-4.0

Das Aufbewahren von Artefakten wirkt konservativ, birgt aber einen progressiven Kern. Pro Quadratmeter fällt eine achtbare Menge Archivgut an

Dass auch Marmor, Stein und Eisen brechen, wusste schon der Schlager. Doch wenn auch der letzte Tonträger hin ist, wird von der angeblich unverbrüchlichen Liebe niemand mehr erfahren können. Tatsächlich unternehmen wir große Anstrengungen, um Dinge vor dem Verfall zu bewahren. Welche eigentlich, wie lange und wozu?

Die längste Zeit ging der Großteil dessen, was Menschen herstellen, unbemerkt in Naturprozesse zurück. Und was länger überdauerte – meist aufgrund von Materialeigenschaften –, bereitete keine größeren Probleme. Doch die kulturelle Produktion hat begonnen, die Verdauungsleistung des Erdsystems zu überfordern. Der Name "Anthropozän", dessen Einführung eigentlich für Feststimmung hätte sorgen können, klingt heute überwiegend nach Bedrohung und riesenhaften Problemen.

In einem Artikel zur Größenordnung der globalen Technosphäre, veröffentlicht in der Zeitschrift The Anthropocene Review, kommen die Autoren zu der Schätzung, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts rund 50 Kilogramm Artefakt auf jedem Quadratmeter Erdoberfläche lagen.

Dies umfasste die Gesamtheit der globalen Kunstmasse, ob sie als intakte Infrastruktur Verwendung fand, in Wetter und Wellen dahinrottete oder auf sonstige Art Teil dieser Welt war.

Einige Produkte erfahren besondere Zuwendung. Sie werden in Verwahrstationen gebracht, um sie den zerstörerischen Prozessen zu entziehen und möglichst lange zu erhalten. Die in Archiven, Museen, Bibliotheken und Sammlungen untergebrachten Dinge harren nicht einer späteren Verwendung in anderen Funktionszusammenhängen – wie etwa beim Lager oder dem Versteck –, sondern sollen an ihre letzte Stelle gerückt sein.

Aufbewahrung und Fortschritt

Die Metaphern, die für diese Orte zum Einsatz kommen, deuten auf eine Dominanz zeitlicher Rückbezüglichkeit hin: "Gedächtnisinstitutionen" sind mit einem "Erbe" oder einer "Überlieferung" befasst und tragen dabei dem Umstand Rechnung, dass Gewesenes nur im Überdauernden präsent gehalten werden kann.

Die in den Konservierungsstätten versammelten Dinge fungieren als "Speicher" für reaktualisierbare Inhalte. Sie bewahren Bedeutungen und Sinnhorizonte, um sie erschließungsfähig zu halten. Es ist damit vor allem sein Beitrag zur allgemeinen Wissensakkumulation, der ein Objekt als erhaltenswürdig erscheinen lässt.

Robert Spaemann hat in dieser Praxis der selektiven Anhäufung von Artefakten die Voraussetzung für einen universellen Fortschritt gesehen. Dieser ereigne sich in der Realisierung jener Möglichkeiten, die in den wachsenden Beständen bereitliegen und fortwährend hinterlegt werden.1

Der Charme dieser Idee von Aufbewahrung liegt in der eröffneten Fortschrittsperspektive, die konservative und progressive Momente zusammenbringt. Nicht die bloße Rückschau ist es, die den Sinn der Institutionen einseitig bestimmt, sondern Bewahrung wird hier stets vorgenommen mit Blick auf das Zukünftige.

Auf der Kehrseite allerdings droht die lähmende Überfrachtung. Zwar vermag keine Gegenwart allein aus sich heraus leben, doch ein Erbe anzutreten kann auch lästig sein. Tradition verpflichtet, Überlieferung überfordert und wird zum Hemmnis. Offenbar kommt es auch in Fragen der Aufbewahrung auf das rechte Maß an.

Während im privaten Bereich gegen kuriose Sammelwut prinzipiell nichts einzuwenden ist, müssen Gemeinwesen zu einer Aufbewahrungspraxis finden, die im allgemeinen Interesse liegt und mit plausiblem Mitteleinsatz vollzogen werden kann.

Die Medien zugänglich machen oder wegschließen?

Die Synthese aus Konservierung und Zukunftsorientierung prägt auch Zweck und Auftrag von "Gedächtnisinstitutionen". Sie dienen in der Regel nicht bloß der Verwahrung von Objekten, sondern sind auch Forschungsorte und Bildungsstätten.

In diesen Einrichtungen tritt jedoch ein prinzipieller Konflikt in die Praxis, der in der fortschrittsorientierten Aufbewahrungsidee bereits angelegt ist: Weil für die Verwirklichung der in den Beständen bereitliegenden Potentiale die Begegnung mit dem Material nötig ist, sind Abnutzungserscheinungen unumgänglich.

Sicherung und Erhalt erfordern Statik, Unverfügbarkeit, stabile Verhältnisse. Für Bildungs- und Vermittlungsabsichten bedarf es hingegen eines möglichst uneingeschränkten Zugriffs auf die Speichermedien.

Dieses Dilemma wurde vor einigen Jahren exemplarisch greifbar, als die Deutsche Nationalbibliothek im November 2016 ihre Benutzerordnung änderte. Mit Verweis auf den Bestandsschutz wurde den Bibliotheksbesuchern die Aushändigung gedruckter Werke verweigert, wenn entsprechende Exemplare auch als elektronische Datensätze verfügbar waren.

Für betroffene Nutzer der Einrichtungen in Leipzig und Frankfurt am Main bedeutete dies im Regelfall, dass sie ihre Lektüre an eigens bereitgestellten Bildschirmen vornehmen mussten, damit die Bände unberührt in den Magazinen verbleiben konnten.

Bei den sich anschließenden Kontroversen ging es vorwiegend um ökonomische, ökologische sowie um wissenschaftspolitische Aspekte dieser umstrittenen Maßnahme. Auch der erzwungene Medienwechsel bei der Rezeption der Werke war Gegenstand der Kritik.

Denn obgleich dem Lesepublikum de facto keine Inhalte vorenthalten wurden, hatte es sich doch mit einer in mehrfacher Hinsicht nachteiligen Ersatzlösung zu arrangieren. Mindestens ebenso schwerwiegend wie die praktischen Konsequenzen vor Ort – unergonomische Handhabung, Erschwerung oder Verunmöglichung wissenschaftlichen Arbeitens – mag jedoch die Tatsache gewesen sein, dass den Besuchern die Rolle des zersetzenden Schädlings zufiel, vor dem die Wissensspeicher zu schützen waren.

Die Frage, wozu diese Objekte und das darin enthaltene Wissen überhaupt aufbewahrt werden sollen, kam im Verlauf der Debatte allerdings kaum zur Sprache. Ebenso der Umstand, dass der Vorzug des archivarischen Prinzips vor dem bildenden die subtile Tendenz hat, Aufbewahrung zum Selbstzweck zu machen und sie nicht mehr als Mittel zur universell-humanen Fortentwicklung zu begreifen. Nichtsdestotrotz wurde die Regelung nach der öffentlichen Auseinandersetzung wieder kassiert.

Unter den publiken Aufbewahrungsorten ist die Bibliothek ein Spezialfall, weil der Konflikt zwischen Aufbewahrung und Nutzung hier in besonderer Schärfe auftritt. Denn anders als beispielsweise in einem klassischen Museum erfordert die Art der gesammelten Medien einen unmittelbar taktilen Objektbezug der Besucher. Die Bücher lesen oder schützen? Zu dieser Grundfrage hat Umberto Eco in einem Essay2 eine Antwort gefunden, die rigide Einseitigkeiten ebenso meidet wie die in solchen Lagen gern beschworenen "Mittelwege":

Ich sage gar nicht, daß man sich entscheiden muß, sie schutzlos zur Lektüre freizugeben, aber man muß sie auch nicht so schützen, daß niemand sie lesen kann. Und ich sage auch nicht, daß man einen Mittelweg finden muß. Man muß sich entscheiden, welchem der beiden Ideale man Priorität geben will, danach wird man den Realitäten Rechnung tragen und überlegen, wie man das sekundäre Ideal verteidigt.

Umberto Eco

Statt einem indifferenten "Ausgleich" das Wort zu reden, ermutigt der Kommentar zur Stellungnahme und mahnt zugleich Rücksichtnahme beim Schutz des für zweitrangig erklärten Prinzips an. Keinen Zweifel lässt Eco indes an seiner persönlichen Vorliebe. Er gibt ein temperamentvolles wie kluges Plädoyer für die offene, am Menschen orientierte Bibliothek, ohne die Kosten und Risiken dieser Entscheidung zu unterschlagen.